Am Ende dieser Episode befinden wir uns im Thronsaal von King’s Landing. Die Kamera filmt das Geschehen von Joffreys Position aus, vom Eisernen Thron. Sie ist hinter seinem Rücken, hinter dem Thron, denn Joffreys Rücken ist nicht groß genug, um ihn auszufüllen. Er sitzt zwar da, verfügt aber nicht über die Macht, die mit dem Thron einhergeht. Viele Kandidaten hätten breitere, geeignetere Rücken. Die Kamera gleitet langsam hinter den eisernen Spitzen des Throns nach unten in die Dunkelheit, die dann den Bildschirm ausfüllt, bevor die Credits laufen.
Hell und Dunkel. In der Game-of-Thrones-Welt sind Oppositionspaare nicht das, was sie sein sollten, und lassen sich nicht in Gut und Böse übersetzen. Der weiße Winter bringt Dunkelheit mit sich, aus der Geschöpfe hervorkommen, die besser im Dunkel des Todes bleiben sollten. Doch sie kommen ans Tageslicht und finden nur im glühenden Feuer Endgültigkeit: die Zombies mit den blauen Augen, die aus den von ihnen getöteten Menschen die White Walkers machen. Das Erwachen eines Alptraums wird in dieser Episode mit einem weiteren Kameraschwenk symbolisiert, als Sam zu den anderen Männern der Night Watch folgende Worte spricht: „I hope the wall’s high enough.“ Kurz davor hat Jon Snow in den Räumen des Commanders einen Zombie getötet.
Nach Sams Worten schwenkt die Kamera an der Wand entlang in die Höhe. Immer höher und höher, bis das Bild mit glühendem Licht überflutet wird, welches die schneeweiße Oberfläche zurückstrahlt. Genauso wie die Eskimos Hunderte Wörter für Schnee und Eis kennen, um die nur für sie erkennbaren Unterschiede zu bezeichnen, spielt Game of Thrones mit unterschiedlichen Schattierungen der Entscheidungen seiner Figuren. Nichts ist endgültig richtig oder falsch, denn es gibt keine Messlatte, über die man springen könnte. Nur das Überleben zählt. Und dieses ist bei keinem gesichert.
Über die Klinge kann jeden Moment jeder springen: Nichts ist hoch oder niedrig genug, hell oder dunkel genug, um den Menschen vor sich selbst, vor den eigenen Entscheidungen zu schützen. Game of Thrones verurteilt nicht, sondern präsentiert die Entscheidungen seiner Figuren und lässt den Zuschauer richten – und verwickelt auch ihn damit in ein Spiel, das er nicht gewinnen kann. Die Zuschauer sitzen einfach nur da und zittern um die von ihnen geliebten Figuren.
The Pointy End ist die Spitze des Eisbergs in jedem Sinne. Sie ist die Höhe, die in der Sonne die eigene Schönheit preist und alle blendet – so dass sie blind werden für die tödliche Schärfe ihrer Spitze. George R.R. Martin selbst hat die Episode geschrieben, in meinen Augen die bisher beste der Serie. Martin lässt hier, im Vergleich zu den vorherigen Episoden, eher die tödlichen Schwertspitzen sprechen als die Zungen. Die Ausnahmen bilden natürlich die Schwertkampf-Untauglichen: Bran, das Kind, das mit der Wilden spricht, Sam, der Feigling, der ein wichtiges Ergebnis seiner Buchlektüren mitzuteilen hat und dafür Anerkennung findet, und natürlich Tyrion, der „half man“, der das Schwert schon immer durch seine flinke, verführerische, schlagfertige Zunge ersetzt hat.
The Pointy End präsentiert die Konsequenzen der “Zungenarbeit”, der vielen Dialoge und Monologe bisher. Das aber bedeutet noch immer keine klaren Entscheidungen, keine Endgültigkeit (es gibt immer eine Zombie-Möglichkeit!), „no clear cut“. Jede Wunde ist schmutzig, sie schmerzt und hinterlässt böses Blut. Zwei Familien, die Starks und die Lannisters, brechen in den Krieg gegeneinander auf und ziehen alles, was im Weg steht, mit hinein in den Dreck. Ganz klar führt Martin uns Zuschauern vor Augen, dass ein solcher Krieg keinen Glamour mit sich bringt, sondern nur Tod – und dass jede/r nur versuchen kann, dem Tod zu sagen: „not today“.
Aber The Pointy End erzählt nicht nur von der tödlichen Spitze, sondern auch von der Hand, die den Griff des Schwertes hält. Joffrey, Dany, Robb, Lysa, Varys und Shagga befinden sich in der Machtposition, Gnade zeigen und anderen helfen zu können, aber wie richtig können ihre Entscheidungen sein – und wie falsch? Was wird überwiegen – die Schwere des Griffs oder die Leichtigkeit der Spitze?
Eine Menge geschieht in dieser Episode, und sie versetzt uns an jeden Handlungsort, was vor dem Hintergrund der letzten Episoden untypisch erscheint. So entsteht nicht nur ein Eindruck der Mannigfaltigkeit dieser Welt, sondern sie steigt als ein geschlossenes Ganzes empor, in dem sich die Ereignisse überschlagen. Die Szenen wechseln wie die sich drehenden Ringe aus dem Vorspann. Nichtsdestotrotz schafft es die Serie, sich Zeit für ihre Figuren zu nehmen und sie sich entfalten zu lassen – auch wenn es innerhalb einer kurzen Szene geschieht. Nehmen wir nur die zwei kurzen Auftritte von Ned Stark in dem königlichen Verließ: Die Gebrochenheit seiner Figur spielt Sean Bean genauso exzellent und unaufdringlich, wie das Produktionsteam die Szene selbst inszeniert, in spärliches Licht getaucht, das die Schatten des Unausweichlichen auf Neds Gesicht tanzen lässt.
Getanzt wird in dieser Episode in zwei Szenen, mit unterschiedlichem Ausgang für die Tänzer. In einer Episode, die mit blutigen, tödlich glänzenden Klingen arbeitet, verzichten Syrio Forel und Khal Drogo in ihren Auseinandersetzungen interessanterweise darauf. Forel kämpft mit seinem Holzschwert und Drogo mit bloßen Händen. Dany wird als erste mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung konfrontiert, als Drogos Leute ein Dorf plündern, Sklaven nehmen und sich darauf vorbereiten, die Frauen zu vergewaltigen. Drogo braucht finanzielle Mittel für die Fahrt nach Westeros – und das bringt Kollateralschäden mit sich. Dany aber setzt sich furchtlos für die Frauen ein, was einem von Drogos Männern missfällt.
Noch immer nimmt Drogo „the moon of my life“ in Schutz, sichtlich beeindruckt von ihrer „fierceness“ und abfällig gegenüber der Beschwerde: „Go stick your cock into something else!“ Magos Aufbäumen gegen das Königspaar endet mit einer durchgeschnittenen Kehle und einer mit Drogos bloßer Hand herausgerissenen Zunge. Das Bild von Drogos Hand mit der Zunge, so sehr es Manche verstören mag, trifft eine symbolische Aussage: Wer nicht die passenden Worte auf der Zunge hat, verliert diese. Gleichzeitig demonstriert es die Änderungen innerhalb der sozialen Ordnung der Dothrakis und die wachsende Beziehung zwischen Dany und Drogo.
Einer anderen Beziehung wird in dieser Episode ein trauriges Ende gesetzt. Wir sehen, wie Syrio mit Arya übt und sie belehrt: „Watching is not seeing, dead girl.“ Ab dem Moment, als Lannisters Leute hereinstürmen, ist Arya ein “dead girl walking”. Sie sieht zunächst, wie Syrio, tänzerisch und nur mit einem Holzschwert bewaffnet, die Angriffe meistert (grandiose Choreographie wieder einmal), nur um dann sein Schwert bis zum Heft abgeschnitten zu bekommen. Ohne Klinge ist die Hand, die den Griff hält, machtlos. Sehr schön übernimmt man diesen Moment als den letzten, in dem wir Syrio sehen.
Man zeigt seinen Tod nicht – er huscht nur wie ein Schatten an der Wand entlang, zu der die fliehende Arya schaut. Arya kann „Not today“ sagen, aber sie beendet auf ihrer Flucht ein anderes Leben, um selbst zu überleben: Als sie zwischen den toten Stark-Leuten ihr Needle sucht, wird sie von dem Stalljungen belästigt und bohrt ihm Needles Spitze in den Bauch. Diese Spitze beendet Aryas Kindheit und lässt uns vermuten, dass Needle im Zuge ihres Überlebenskampfes weitere Opfer fordern wird: Auch Aryas Krieg hat begonnen.
Wer wird den kommenden Krieg gewinnen – und wer wird ihm zum Opfer fallen? Catelyn Stark sagt ihrem Sohn Robb, der sich aus der Not zum Anführer der Kräfte des Nordens erheben muss, dass sie sich nicht erlauben können zu verlieren. Seine Entscheidung, mit dem Schwert zu antworten auf den Ruf des Königshauses, Joffrey als König anzuerkennen, kann verheerende Konsequenzen haben, genauso wie der Entschluss, den Lannister-Spion mit Informationen zurück zu Tywin laufen zu lassen. Aber vielleicht hat er ein As im Ärmel – so wie Tyrion Lannister, der das „not today“ mittlerweile verinnerlicht hat (wie gesagt: er trägt es auf der Zunge, nicht auf der Klinge).
Vor dem letzten Tanz kann sich Tyrion bewahren, als Bronn und er von Wildlingen im Wald überfallen werden. Der Anführer fordert Bronns Tod – und: „Take the half man. He can dance for the children.“ Tyrions Vorstellung von dem Tag, an dem er dem Tod “today” sagen kann, lautet folgendermaßen: „In my own bed, at the age of 80, with a bellyful of wine and a girl’s mouth around my cock.“ Tyrion will überleben, um jeden Preis, und schließt einen Pakt mit der Horde. So kann er mit den neuen Verbündeten zu seinem Vater zurückkehren. Bronns Vorstellung vor Tywin ist übrigens zum Totlachen: „This is Bronn, son of…“ – „…you wouldn’t know him.“
Tywin informiert seinen Sohn über die letzten Ereignisse, bevor sie (Tyrion gezwungenermaßen) in den Krieg gegen Winterfell ziehen. Ist aber die Entscheidung des Krieges wichtiger als das gleißende Weiß des Winters, der Westeros bald mit Dunkelheit überziehen und alle Zungen einfrieren lassen wird? Nun, in Game of Thrones ist „watching not seeing“…