Können Schneeflocken bedrohlich fallen? In HBOs Game of Thrones überkommt den Zuschauer von weit her ein fast vergessenes Gefühl, das durch die Entwicklung der Zivilisation verbannt bzw. ins Positive umgewandelt wurde. „Winter is coming“: Game of Thrones erinnert an Zeiten, als der Winter eine Bedrohung darstellte, anstatt freudig erwartet zu werden. Einem langen Sommer folgt ein noch längerer Winter, und die Serie versetzt uns genau an den Zeitpunkt dieses Übergangs.
Lord Snow: Der Name der Episode weist nicht nur auf Ned Starks (Sean Bean) Sohn hin, der zu The Wall aufbricht, sondern trägt den Namen des Herrschers, der unterwegs zu seinem Thron ist. Snow, Schnee, Winter – sehr gut macht die Serie Gebrauch von der kalten Bedrohung, von dieser Figur ohne Präsenz. In der dritten Game of Thrones-Episode nehmen die “kalten” Bilder zu. Die Episode inszeniert sowohl inhaltlich als auch visuell ein Wechselbad der Gefühle. Sie treibt die Handlungsstränge voran: bis zu gewissen Punkten, an welchen man plötzlich erstarrt. Vor Kälte, vor Grauen, aber auch und vor allem durch eine Erkenntnis.
Der Zeitpunkt eines Wetterumbruchs ist gekommen, aber ebenso die Zeit eines Machtumbruchs, mit dem entscheidende Machtkämpfe einhergehen. Die Handlung in Lord Snow lässt den Zuschauer neuen Figuren begegnen und bewegt sich entlang eines Dreiecks, das man folgendermaßen beschreiben kann: Wall Stories – War Stories – Children Stories. Sie gehen ineinander über, mit Tanzschritten und dem Schwung einer tödlichen Waffe.
Diesen Schwung muss man beherrschen, um bei The Black Watch zu überleben, auch wenn man dafür vielleicht auf das Tänzerische verzichten muss. Denn Jon Snow (Kit Harington) muss seine Umgangsformen rasch ändern, um zu überleben. Tyrion Lannister (Peter Dinklage) beobachtet Snows Fort-Schritte aus nächster Nähe, bevor er nach Kings Landing zurückkehrt.
Die Serie präsentiert uns nicht nur großartige Bilder von The Wall, sondern auch die Erkenntnis, dass derjenige, der die Grenze zieht, zugleich auch bestimmt, was das Andere und was das Eigene ist. Was ist schlimmer: dass es The White Walkers wirklich gibt – oder dass auch ohne sie die Grenze bestehen bleiben würde? Snows Onkel sagt: „Here, a man gets what he earns, when he earns it.“ The Wall bietet für manche die Chance, etwas aus sich zu machen, wenn sie nicht in eine bestimmte Position hineingeboren worden sind – anders also als die Beteiligten in Kings Landing, wohin die Handlung im Kontrast zu Snows Plot immer wieder springt.
Angekommen in Kings Landing, wird Ned Stark immer klarer, in welch unmögliche Aufgabe Robert ihn hineinmanövriert hat. Das Königreich ist nicht nur pleite und schuldet den Lannisters Unmengen an Geld, sondern jeder scheint ein eigenes Ziel zu verfolgen, was die Lage für Ned unübersichtlich gestaltet: Wer ist Freund und wer ist Feind? Ned kann keine klare Grenze ziehen; die politischen Intrigen überfordern ihn. Keinen klar definierten Gegner zu haben, den man mit dem Schwert niederstrecken kann, verunsichert Ned zunehmend.
Die Wolken werden immer dichter, vor allem nach Catelyns heimlichem Besuch: Sie bringt Gewissheit, dass die Lannisters in die Anschläge involviert sind. Unerwartete Unterstützung bekommen die Starks vom Schatzmeister Petyr “Littlefinger” (Aidan Gillen), der eine Schwäche für Catelyn zu haben scheint.
Der Rest der Handlung in Kings Landing besteht aus „War Stories“, die von König Robert (Mark Addy), aber auch Jamie Lannister (Nikolaj Coster-Waldau) erzählt werden und sich vor allem um den alten König drehen, The Mad King, dessen letzte Worte „Burn them all“ lauteten. Wir erfahren, dass dieses Schicksal Neds Vater zuteil wurde. Die Gespräche sowohl zwischen Jamie und Ned als auch zwischen Jamie und Robert zeigen auf Seiten der älteren Männer eine gewisse Verbitterung, eine Sehnsucht nach alten Zeiten. Sind sie immer noch im Stande, den Kampf zu führen oder zumindest ihre Nachkommen gut darauf vorzubereiten?
Die Kamera gleitet an den Gesichtern der Beteiligten entlang, wie sie vorher in den The Wall-Aufnahmen zwischen den Schneeflocken tanzte, um einen Blick in die Gewissheit der dunklen Bedrohung zu werfen. Von dieser Bedrohung erzählt die Nanny Bran, der schreckliche Stories mag – und sich an die Szene vor seinem Fall nicht erinnern kann (oder will?). Seine Schwester Arya (Maisie Williams) jedoch kann die Gemeinheit der Lannisters nicht vergessen und findet sich nicht mit der Rolle ab, in die sie hineingeboren wurde. Sie will keine Lady sein, sondern eine Kriegerin. Auch Dany (Emilia Clarke) ist keine Sklavin mehr, sondern eine Königin – und das bekommt ihr eigener Bruder Viserys zu spüren. Hinzu kommt die Tatsache, dass Dany schwanger ist, was ihrer Position noch mehr Macht verleiht.
Die Episode endet mit einer großartigen Szene von Arya, die sich langsam, aber sicher zu meiner Lieblings-Stark-Figur entwickelt. Arya geht in die Schwertausbildung und wird den tänzerischen Umgang mit einer tödlichen Waffe erlernen. Als Ned das Training beobachtet, erstrahlt sein Gesicht zum ersten Mal in dieser Episode, aber während sich die Kamera seinem Gesicht nähert, ändert sich der Sound: Das Klicken der Holzschwerter verwandelt sich in stählerne Kriegsgeräusche, die Neds Lächeln eintrüben.
Der Winter kommt als ein Kindermärchen, das die Zuhörer erstarren lassen könnte…