Während des Zweiten Weltkriegs besuchte ein deutscher Offizier Picasso in seinem Atelier in Paris. Er erblickte Picassos Gemälde Guernica, das der Maler gerade fertig gestellt hatte und fragte geschockt: Hast du das gemacht? Picassos Antwort lautete: Nein, du! So erhielt der Nazi-Offizier die Botschaft in ihrer wahren Form zurück. Genau wie in dieser Geschichte zeigt uns Blind Spot, wie Handlungen irgendwann unweigerlich ihre Konsequenzen nach sich ziehen.
Ob justified oder nicht, die Spur der Gewalt, die Raylan Givens (Timothy Olyphant) hinter sich gelassen hat, spürt ihn in Kentucky auf. Gleichzeitig nutzt Justified die Gelegenheit, uns Zuschauer vor Augen zu führen, wie viele menschliche Schicksale von der Gewalt in all ihrer Formen dominiert und gelenkt werden.
Der lokale Sheriff Mosely steckt unter einer Decke mit dem Miami-Kartell, das Raylan tot wissen möchte. Das kommt zwar überraschend für den Zuschauer. Aber auf diese Art und Weise – anhand seiner Erzählung der Vorgeschichte – schafft man, alle lose Enden zu binden und uns das komplette Bild zu zeigen. Und es ist übersät von Gewalt.
Als Austausch für Henry Crowder (ja, noch ein Crowder), der damals ein zehnjähriges Mädchen – eine Verwandte des Sheriffs – vergewaltigte und tötete, ging der Sheriff einen Deal mit der Miami-Mafia ein. Er buchtete Bo Crowder für sein Drogengeschäft ein und übernahm es selbst, als Handlanger des Kartells.
Und jetzt tauchen zwei Auftragskiller aus Miami auf, die Raylan zu töten versuchen. Es handelt sich ganz in Leonards Style um ein ungleiches Pärchen: Der kaltblütige und perverse Profi aus Miami und sein tollpatschiger einheimischer Helfer. Der Zweite vermasselt den Anschlag, als er Raylan und Ava in Avas Schlafzimmer überrascht.
Aber dieser Versuch setzt eine Lawine frei: „You think there’s never going to be any consequences for this?“ brüllt Art Raylan an. Gerechtfertigt oder nicht, die eigenen Taten suchen jeden wieder heim und bringen Raylan dazu, dass er allmählich die Kontrolle verliert. Genau das demonstriert uns diese Episode, die den zweiten Abschnitt der ersten Staffel der FX-Serie einleitet: Raylan hat plötzlich keine Geschichten mehr auf Lager und merkt, wie verwundbar ihn die Beziehung mit Ava macht.
Er kann nicht mehr die Schritte seiner Gegner vorhersehen und ihnen zuvorkommen. Er kann sie nicht einmal identifizieren. Dafür bedarf es Boyd Crowders (Walton Goggins) Hilfe. Blind Spot ist der absolut passende Titel für Raylans Zustand. Er kann das ganze Bild nicht überblicken, denn darin ist ein blinder Fleck, wo er nicht hinsehen kann, nämlich die eigene Präsenz im Bild. Der Blick ist – genau wie in der Geschichte vom Anfang dieses Artikels – weit davon entfernt, die Selbstpräsenz des Subjekts und seine Sicht zu sichern – als ein Makel, als ein Fleck im Bild, der dessen klare Sichtbarkeit beeinträchtigt und dazu führt, dass Raylan das Bild an der Stelle nicht sehen kann, von der aus das Bild ihn anblickt. Dieses Zurückblicken beschreibt Raylans Taten, die ihn natürlich in Form der Gewalt heimsuchen.
Man kann sagen, dass er dadurch seine geglaubte sichere “objektive” Entfernung von der aus er auf das Bild schaut, verliert. Das Bild fängt an, sich dem einrahmenden Zugriff seiner Sicht zu entziehen. An diesem Punkt wird Raylan klar, dass der Rahmen (seiner Sicht) schon dem “Inhalt” des angeschauten Bildes eingeschrieben ist. Und das treibt ihn in den Wahnsinn, wie wir es bei seinem Besuch im Gefängnis sehen, wo er auf Boyd Crowder losgeht. Boyds entspannte Haltung und biblisches Gerede sind nicht im Entferntesten Zeichen von Erläuterung, sondern Boyds Mittel, sein Spielchen mit Raylan zu treiben.
Es ist eine Art „Das Schweigen der Lämmer“-Kammerspiel, bei dem Boyd Raylan immer wieder fragt: „Are the lambs still screaming?“ Die Szenen zwischen Timothy Olyphant und Walter Goggins sind diejenigen, auf die wir seit der Pilotepisode gewartet haben. In extremen Close-Ups (meist werden Augen- oder Mundpartie gezeigt) spielen sie Katz und Maus und dabei ist Goggins derjenige, der wirklich in kleinen aber feinen Schritten die Figur von Boyd in ihrer Entwicklung nach vorne bringt. So dass wir uns ständig fragen müssen, was man zwischen den Zeilen, die aus seinem Mund kommen, hören kann. Als aber am Ende die anderen Insassen auf ihn losgehen, hören wir eines sehr deutlich: „It’s good to see you, daddy!“
Ja, der große, böse Bo Crowder, dessen dunkler Schatten seit einiger Zeit über der Handlung schwebt, taucht in Fleisch und Blut auf. Man kann den Produzenten nur zu ihrem gelungenen Casting gratulieren. Papa Bo wird von M.C. Gainey (aka Tom Friendly aus Lost) gespielt und ich bin unglaublich ungeduldig und gespannt, wie es weiter geht!