In einem Artikel über die achte Episode der ersten Justified-Staffel sprach ich über eine Kugel, die immer ihren Bestimmungsort erreicht. Als Grundlage für die Erklärung von Justifieds dramaturgischer Struktur zog ich Jacques Lacans Ausführungen über Edgar Allan Poes Erzählung “Der entwendete Brief” heran. Keine Angst: Ich werde mich hier nicht in die unheimlichen Schluchten der Psychoanalyse begeben, sondern ein einfaches Bild präsentieren, das jeder von euch kennt.
Seit „The Matrix“ bekommen wir sowohl im Kino als auch im Fernsehen oftmals das Bild einer Kugel im Close-Up zu sehen. Diese abgefeuerte Kugel fliegt in Slow Motion dahin und sucht ihr Ziel. Oft aber stehen ihr Hindernisse im Wege, die sie überwinden, durchschlagen muss. Diese Kugel ist gleichzeitig ein Brief, eine Todesnachricht, die immer ihren Bestimmungsort erreicht. Wie im Review zu Blowback schon geschrieben, ist die Todeskugel, die in Justified zwischen den Subjekten kreist, das, was die Subjekte verbindet und gleichzeitig vorantreibt. Sie fliegt zwar mit zerstörerischer Absicht, aber gleichzeitig konstituiert sie die so genannte symbolische Ordnung, generiert die Basis des Austausches zwischen den Subjekten, ihre Beziehungen untereinander.
Wir haben es mit einer Geschichte über Gewalt zu tun, einer Geschichte über Figuren, deren Beziehungen letztlich nur auf Gewalt basieren. Oder auf Liebe? Auf einer gnadenlosen Liebe, die unausweichlich in Gewalt einmündet? Raylan ist hier der Adressat, den der Brief nicht verfehlen soll – aber zugleich ist er sein Absender. Eine Tatsache, die Boyd ihm immer vor Augen geführt hat und die Raylan nicht akzeptieren wollte. Die Kugel, die er selbst in einem Akt der Gewalt bereits abgeschossen hat, irrt umher und sucht nach ihrem Adressaten: ihm selbst!
Boyd hat offenbar erkannt (und wollte es auch selbst lange nicht akzeptieren), dass keiner seinem Schicksal entrinnen kann. In Reckoning erkennt das letztendlich auch Raylan (Timothy Olyphant). Jedes Subjekt muss seine symbolische Schuld bezahlen: Der Brief ist auch ein Schuldbrief, eine Rechnung. „This is who we are, who we have always been“, sagt er zu Dickie (Jeremy Davies), als er seinen Revolver an dessen Kopf hält.
Aber bevor es zu diesen Szenen kommt, muss Raylan eine Aufeinanderfolge von Eins-zu-eins-Szenen mit nahezu jeder Figur hinnehmen. Diese Begegnungen und die sich daraus ergebenden Unterhaltungen sind genau die Momente, da die zum Ziel fliegende Kugel dünne Wände durchschlägt: die letzten Wände, die Raylan mühsam zwischen “Angry Raylan” und “Marshall Raylan Givens” errichtet hatte. Die wichtigste davon heißt Helen. Nach ihrem Tod durch Dickies Hand sind Raylans Trauer und Schuldgefühle nicht zu übersehen. Auch wenn er nicht direkt verantwortlich ist, erkennt er, dass er einen guten Teil der Schuld trägt.
Reckoning besteht aus rohen Gefühlen. Die Episode geht auf dem eigenen Zahnfleisch, zugleich tief traurig und wütend. Im Laufe von Reckoning hat man das Gefühl, dass Raylan an sich selbst anknüpft: dass eine Wiedervereinigung mit dem Selbst stattfindet, vor dem er weg laufen wollte. Das Weglaufen ermöglichte ihm damals eben Helen. Jetzt ist der „angry man“ Raylan wieder da, ganz nah an dem Grabstein in Arlos und Helens Garten mit der Aufschrift “Raylan Givens”, den wir während Helens Begräbnis für einen langen Moment durch Winonas (Nathalie Zea) Augen zu sehen bekommen.
Reckoning stellt andererseits klar: dass Ava (Joelle Carter) immer dem Crowder-Clan angehören wird; dass Boyd (Walton Goggins) seine kriminelle Machtspielchen weiter treiben wird; und dass Dickie wieder in die Bennett-Familie aufgenommen wird. Dickies Sich-Aufbäumen gegen alle führt letztendlich dazu, dass sich Mags (Margo Martindale) am Ende der Episode entschließt, wieder in den blutigen Kampf um Harlan einzusteigen: „We’ll take care of all that. Don’t you worry. We’ll take care of everything.“
Ob die umher irrende Kugel im Finale mehr Treffer erzielen wird – und ob Justified mehrere Emmy-Nominierungen wert ist? Um mit Raylan selbst zu urteilen: „It’s a rhetorical question.“