Homeland: The Vest (1×11)

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Nachdem ich diese Episode gesehen hatte, fühlte ich mich eine Weile so, als befände sich das Papier- und Bildchaos aus Carries Wohnung in meinem eigenen Kopf. Eigentlich eine erschreckende Feststellung – aber der Zustand dauert nur so lange an, bis man im Chaos das Muster gesehen, the thin green line gefunden hat. Wie ging noch einmal das Lied? “Grün, grün, grün sind alle meine… Feinde, grün, grün, grün ist alles, was ich hab”. The Vest gehört eindeutig Claire Danes. Der durch Walker verursachte Bombenanschlag hat nicht nur physische Konsequenzen für Carrie, sondern lässt auch im metaphorischen Sinne ihren Kopf explodieren.

The Vest ergießt sich ab der Minute, da Saul (Mandy Patinkin) das Krankenhaus betritt und Carrie abholen will, als ein Carrie-Schwall über uns und alle Beteiligten, so dass wir im Dauerregen stehen. Bis am Horizont ein Regenbogen auftaucht. In dessen Unvollständigkeit liegt der Schlüssel zum Geheimnis chaotischer Bilder. „Incomplete“: dieses Wort benutzt Carrie mehrmals in der Episode. Fühlte sich außer mir noch jemand an Rubicons Will Travers erinnert? Jedes Bild ist unvollständig, auch wenn es komplett ist. Jedes Bild hat einen blinden Fleck, eine Stelle, an der wir nichts sehen können, denn sie ist für unseren eigenen Blick reserviert. Wir sind nie außerhalb, sondern drin im Bild, Teil davon. Unser Blick ist der blinde Fleck, der absoluter Objektivität den Weg abschneidet.

Unser Kontext, unsere eigenen Gefühle und Emotionen bilden den Boden, auf dem Gedanken und Einschätzungen wachsen – wie Pflanzen, die ein grünes Labyrinth erzeugen, etwa das aus Homelands Vorspann. Warum hat niemand das “Loch” in Abu Nazirs Timeline gesehen? Weil jede/r einen objektiven Blick haben will – und der macht blind für das Muster, nach dem man sucht. Denn es ist ein emotionales, nicht nur ein rationales – und wird deshalb per definitionem einfach über-sehen. Man geht von der Selbstverständlichkeit eines Musters aus, von einem rationalen, logischen, objektiv nachzuzeichnenden Verlauf als Grundlage. Natürlich gehört die gelbe Farbe zu jedem Regenbogen dazu.

Im gewissen Sinne wären wir eben deshalb blind für ihr Fehlen: Dinge, die nicht da sind, sehen wir trotzdem, weil sie da sein müssen. Unser Gehirn vervollständigt visuelle Eindrücke von selbst, ohne dass wir es merken: es retuschiert, gleicht aus, macht ‘ganz’. Homelands Brillanz besteht im Kartographieren der Gefühle und Emotionen, von denen wir letzte Woche bereits gesprochen haben. Nur dann, wenn man die erstellte Karte über die Ereignisse legt und einen Schritt zurück macht, sieht man ihre Unvollständigkeit. Und genau die ist das Muster, der Schlüssel, der aus dem Labyrinth hinausführt. Carrie und Saul gelingt es, ihn gemeinsam zu finden: Sie erstellen in dieser Episode eine Kartographie von Abu Nazirs Gefühlen und finden den blinden Fleck, die gelbe Farbe als die Farbe des Verlustes, der persönlichen Tragödie.

Abu Nazirs, Carries, Sauls, Brodys… Es sind persönliche Tragödien, die Homelands Regenbogen unvollständig und damit komplett machen. Als Saul Carrie abholen will, scheint sie komplett aus den Fugen zu geraten. Sie ist besessen von grünen Stiften und von dem Gedanken, dass Walker eigentlich gar nicht in Abu Nazirs Handlungsmuster passt. Es muss mehr sein! Zunächst schockiert Carries Verwirrung Saul, er kann dem Wortschwall nicht folgen, nicht differenzieren, nicht in Carries Rhythmus denken. Die Kamera nähert sich seinem Gesicht; mit dieser Bewegung steigt sowohl in Saul als auch in uns Zuschauern Besorgnis auf, der Orientierungslosigkeit zugrunde liegt. Man kann den Verschiebungen in Carries Gedanken – angetrieben von ihrer Krankheit, die sie vor Saul nicht länger verstecken kann – nicht mehr folgen. Aber sie sind da: Man muss nur zuhören.

Wenn Carrie spricht, benutzt sie oft sehr schnell drei Wörter hintereinander, um eine Sache zu beschreiben, als ob sie nach dem richtigen Wort suchen würde. Die kleinen Differenzen in der Bedeutung synonym gebrauchter Ausdrücke rufen nicht nur jenes Gefühl der Unruhe und Hektik hervor, sondern können als metaphorische Beschreibung der kompletten Homeland-Handlung herhalten, die ständig Verschiebungen erfährt. Mögen diese Verschiebungen auch noch so minimal sein: Sie erzeugen immer neue Bilder, vor denen wir stehen. Brody kandidiert für den Kongress-Sitz, aber während eines Familienausflugs erfährt diese Erzählung die nächste Verschiebung. Als die Familie das Wochenende zusammen verbringen will und nach Gettysburg fährt, stellt sich noch einmal alles auf den Kopf… und auch wieder nicht.

Visuell sehr schön verbunden werden Carrie und Brody, indem man von Carries wirren Gedankengängen auf Brody (Damian Lewis) schneidet, der gerade das Familienauto fährt. Doch wir sehen ihn von Danas Kamera aus, die am Lenkrad befestigt ist. So dreht sich die ganze Zeit sein Gesicht, wenn er lenkt: oben wird unten und umgekehrt, immer wieder. Als Brody den Mann vom Anfang der Episode besucht, der eine Bombe (als Weste) herstellt, und die Weste anzieht, wird uns klar, dass Brodys Rolle in Abu Nazirs Plan eine andere ist: eine tatsächlich viel persönlichere. Es sieht danach aus, als solle er im direkten Kontakt den Vizepräsidenten und sich selbst in die Luft jagen, während Walker den Präsidenten erschießen soll.

Eine Verbindung, die nur wir sehen, weil wir außerhalb des Bildes stehen! Alle Beteiligten wissen nur einzelne Details. Menschen sind einzelne Puzzleteile; persönliche Konflikte und Entscheidungen lassen sie zusammenkommen, um ihre Puzzleteile zu einem kompletten Bild zusammenzusetzen. Brody nimmt gleichsam Abschied von seinen Kindern, ohne dass sie es merken, indem er anhand der Erzählung über The Battle of Little Round Top erklärt, dass man für das kämpfen muss, woran man glaubt. Damals griff ein einfacher Lehrer aus Maine zu einer unkonventionellen Strategie, um Erfolg zu haben.

Genauso unkonventionell spielt Homeland mit unterschiedlichen Strategien. Sogar Saul, der im Wechsel mit Carries Schwester als Carries Babysitter agiert, lässt sich auf Carries unkonventionellen Gedankenfluss ein, auf den Farbenfluss ihrer Notizen – um festzustellen, dass im Zentrum der Ereignisse eine leere Stelle klafft: die Stelle einer persönlichen Tragödie. Als Carrie versucht, aus Brody herauszubekommen, was damals geschah, tauchen David und zwei Agenten bei ihr zu Hause auf, um ihr mitzuteilen, dass sie keinen Job mehr hat: Brody hat alles über die illegale Überwachung erzählt. Auch die mit den farblich markierten Dokumenten bepflasterte Wand wird wieder geräumt. Was bleibt, ist eine leere Stelle, die alle vereint – und gleichzeitig eine Kluft in jeder und jedem hinterlässt…

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