Schöne Bilder, wohin das Auge blickt: Heutzutage kommen TV-Erzählungen in beeindruckender visueller Aufmachung daher. Zeit, einen aufmerksameren Blick darauf zu werfen.
“Watching is not seeing“, sagt Schwertkampfmeister Syrio zu der kleinen Arya Stark in der „Game of Thrones“-Episode „The Pointy End“. Kurz darauf verteidigt er sie gegen die Angreifer und bezahlt dafür (vermutlich) mit seinem Leben. Warum vermutlich? Weil wir nicht sehen, was mit ihm passiert. Es geschieht vor unserem Blick und zugleich versteckt. Syrios Holzschwert wird von seinem Gegner bis zum Griff abgeschnitten; ein Schnitt auf sein Gesicht, dann auf Aryas – und der Rest sind nur Schatten an den Wänden und die Geräusche eines unheilvollen, erbitterten Kampfes.Warum aber empfinden wir Syrios Auftritt als seinen letzten, obwohl wir ihn nicht sterben sehen? Natürlich: Auf der einen Seite behält sich eine Serie damit die Möglichkeit vor, eine Figur doch noch zurückzubringen. Syrios eigene Aussage „Watching is not seeing“ bringt das clever zum Ausdruck. Aber viel wichtiger ist hier die visuelle Umsetzung, die zur Entfaltung der Emotionen beiträgt. Die tänzerische Choreographie der Szene hat etwas Würdevolles an sich. Die schnellen Schnitte zerfließen in eine einzige Bewegung, in einen Tanz. Man verzichtet bewusst auf blutige Aufnahmen (wovor sich „Game of Thrones“ im Prinzip nicht scheut) und eröffnet damit das Feld für Spekulationen und Hoffnungen. Eine Nebenfigur in einer kleinen Szene – und doch, dank der Inszenierung, ein bleibender emotionaler Eindruck.
Inszenierung und Kameraarbeit sind eine sehr wichtige, aber oft vernachlässigte Komponente der Serienerzählung – obwohl die audiovisuelle Beschaffenheit von TV-Serien mittlerweile fast jedem Film Konkurrenz machen kann. Das nimmt nicht Wunder, denn das Fernsehen ist nach wie vor als Medium des Autors bekannt, wo Regisseure und sonstige Mitglieder des Produktionsteams nur ausführende Mitarbeiter sind. Ohne Zweifel ist das Drehbuch von enormer Wichtigkeit, aber die Art, wie heutige Serien ihr im Drehbuch festgehaltenes Konzept umsetzen, bleibt oft unbeachtet; man beschränkt sich auf die Ermittlung narrativer Komplexität und narrativer Strukturen, die wiederum als Ergebnis einer Fortsetzungshandlung und überzeugender Figurendarstellung gesehen werden.
In einer Reihe von Artikeln zur visuellen Beschaffenheit heutiger Serien wollen wir uns mit Elementen dieser Gestaltung und ihrem Einfluss auf das Gesamtkonzept einer Serie beschäftigen.
Wie Karen Lury in ihren Ausführungen zum Kino- und Fernsehbild richtig anmerkt, ist das TV-Bild traditionell dazu bestimmt, eher funktional als schön zu sein. Dem gegenüber kann das Bild heutiger TV-Serien meines Erachtens als gleichzeitig funktional und schön gesehen werden. In diesem mehrteiligen Artikel werde ich den wichtigsten Aspekten dieser Beschaffenheit auf die Spur kommen – wobei ein bei TV-Produktionen oft wenig beachteter Beruf ins Blickfeld gerät, nämlich der des Kameramannes, des sogenannten Cinematographers.Keine Angst: Dies soll keine trockene wissenschaftliche Analyse werden, obwohl die Einführung trocken daher kommt. Eine solche Einleitung vermeidet jedoch Missverständnisse und klärt den Ansatz, nämlich: unser Augenmerk auf die Arbeit des Produktionsteams von TV-Serien zu richten, ihr Tribut zu zollen und uns außerdem vor Augen zu führen, mit welchen “schönen” Bildern wir vor dem TV-Bildschirm liebäugeln dürfen.
Wie die cinematographische Arbeit unser Sehen und dadurch unsere Emotionen beeinflusst, wie sehr sie die Narration vorantreibt oder aber die geliebten Figuren in Szene setzt? Man fragt sich: Müssen wir, als Buffy Angel in die Hölle schickt (letzte Folge der zweiten Staffel), deswegen weinen, weil wir verstanden haben, was passiert – oder spielen nicht doch auch das Musikstück “Close your eyes” von Christophe Beck, die Ausleuchtung der Szene und die Kamera-Einstellungen von den beiden Protagonisten (Close-Up, Medium-Shot etc.) eine wesentliche Rolle? Man stelle sich „24“ ohne das Splitscreen-Verfahren vor oder „CSI: Crime Scene Investigation“ ohne CSI-Shots! Weshalb empfinden Zuschauer eine Serie z.B. als spannend? Nur weil sie die Handlung verstanden haben?
Meiner Meinung nach liegt eine wichtige Qualität heutiger sogenannter Quality Television-Serien in der kognitiven Herausforderung der Zuschauer. Der Genuss, den das Publikum an einer Serie empfindet, misst sich an dem Grad der Bewältigung dieser Herausforderung, die über kognitive Schemata des Einzelnen abläuft: Wissen über Genrekonventionen, Erzählmuster, die Vergabe audiovisueller Informationen, aber auch allgemeines Weltwissen usw. Wir können annehmen, dass sich Quality Television in einer höchst subjektiven Erfahrung ereignet, die in eine genauso subjektive Zuschreibung mündet: Der Zuschauer erkennt die Qualität, wenn / indem er sie sieht. „Watching and seeing!“ Solche Serien, narrativ-audiovisuelle Konstrukte, funktionieren als Zusammenspiel von kognitiver Herausforderung für den Zuschauer und dessen subjektivem Genuss daran.
Daraus sollte aber meines Erachtens bei der Betrachtung von TV-Serien eine nächste Frage resultieren: Wie wird besagte Herausforderung audiovisuell konstruiert? Wir Zuschauer bekommen schließlich nicht das Drehbuch zu lesen, sondern Bilder und Sound zu sehen und zu hören. Um überhaupt mit der Sinnkonstruktion anfangen zu können, müssen wir zuerst die Bilder wahrnehmen; erst über diese Wahrnehmung werden unsere kognitiven Schemata aktiviert. Die Geschichten werden uns gezeigt, in Bildern erzählt. Der audiovisuelle Stil einer Produktion als narratives Element, als Teil des Gesamtkonzepts einer Serie wird des Öfteren stiefmütterlich behandelt. Schon die rein technischen Entwicklungen des Mediums Fernsehen (HDTV, 16:9-Übertragung), gemeinsam mit ökonomischen Veränderungen vor allem in der US-Fernsehlandschaft, führen zu veränderter Produktion und Rezeption; man denke an LCD- und Plasmabildschirme sowie Home-Cinema-Anlagen. Tim del Ruth (Regisseur von „The West Wing“) erzählt in einer Diskussion über Breitbild folgendes:
„Switching to 1.77:1 (16:9) would save us set-up time and coverage. We could stack two or three actors in one Shot without having to go to individual singles, which is what we have to do in 1.33:1 (4:3). As it stands now, we only get one-and-a-half or maybe two people in a raking Shot, the Shots get so wide perspective-wise, that the image of the (third) person’s head gets too small, and we lose the strength that’s needed to tell a story on TV.“
Nicht nur dass das Breitbild der Industrie vermutlich Geld spart: Es bietet einfach mehr (kreativen Spiel-)Raum – bzw. genauso viel wie im Kino.Die Fernsehübertragung ist nicht mehr nur Informationsfluss, sondern Spektakel, das sich in der vollen ästhetischen Entfaltung der Produkte äußert. Diese Entfaltung verführt unseren Blick zur Aufmerksamkeit. Stets hat man die Fernseh-Erfahrung bezüglich der Aufmerksamkeit des Publikums als dem Kino unterlegen eingestuft, da ihr das Dispositiv Kino fehlt: die Dunkelheit, die riesige Leinwand, die vielen Unbekannten, mit denen man das Erlebnis gezwungenermaßen teilt usw. Im Gegensatz zum Fernsehen, so die verbreitete Meinung (hier Nelson), gehörte dem Film die ungeteilte Aufmerksamkeit des Zuschauers:
„Given the various attractions of the domestic space, viewers’ attention may be sporadic. Unlike at the theatre or the cinema, where audiences typically sit in a darkened space constructed to focus their attention on the play or film, most people are engaged in other activities whilst watching television.“
Heutzutage jedoch zwingen viele Serien den Zuschauer ungeachtet seiner jeweiligen Sehumgebung dazu, ihnen genau diese Aufmerksamkeit zu schenken. „Watch to see!“ Um zu immer höherem Genuss zu kommen, muss man auf alles achten, vor allem auf Details. Je mehr Aufmerksamkeit der Zuschauer in die Bildoberfläche investiert, desto mehr gibt es zu entdecken, und desto höher wird der Genussfaktor bei der Betrachtung von Serien. „Breaking Bad“ nehme ich zum Anlass, um an der AMC-Serie zu demonstrieren, wie viel Wert man in heutigen TV-Serien auf die Bildästhetik legt. Poesie für das Auge: so hatte ich in einem Artikel anlässlich des deutschen „Breaking Bad“-Starts die Emmy-prämierte Serie bezeichnet. Ihre Bilder sind nicht mit Figuren überfüllt, sondern oft “leer”. Laut Kameramann Michael Slovis kombinieren sie Ländliches und Urbanes. Man betrachtet das Grenzenlose und das Begrenzte, das Offene und das Geschlossene: Sie existieren gleichzeitig. Und beide können Leere und Isolation bedeuten. Man findet nicht nur den Parkplatz unter dem weiten, offenen Himmel leer vor, sondern auch das eigene Haus.
Die meisten Orte, an die uns die Serie führt, sind anonym, neutral, aber signifikant für die Erzählung: leer, aber schön. Sie befinden sich im Kontext der Geschichte und kreieren ihn zugleich. Die braun-gelben Bilder der New-Mexico-Wüste bilden „Breaking Bad“s Zuhause: Die Serie ist, existiert, lebt im Bild. Auch über das Bedürfnis nach einem Zuhause erzählt „Breaking Bad“, nach Geborgenheit, nach Stabilität, nach einer Grenze – als Abgrenzung gegenüber dem Grenzenlosen, Instabilen.
Diese Stabilität jedoch geht durch die Verkettung von Walters Entscheidungen verloren – und plötzlich ist die Leere in die eigenen vier Wände eingefallen. Was Walter als Versuch sehen will, die Familie zusammenzuhalten, wird mehr und mehr zur offenen Tür für die gefährliche Außenwelt. Walters Interaktion mit diesem Außen geschieht auch von einem anderen Zuhause aus: vom Wohnmobil, dem RV. Dort, inmitten der Chemie, fühlt er die Stabilität, derer er in seinem eigentlichen Zuhause nach und nach verlustig geht.
„Breaking Bad“s Bilder thematisieren den Zeitverlust, der gleichzeitig stehen gebliebene und fehlende Zeit bezeichnet. Zu Beginn fehlt Walter Zeit, da er todkrank ist. Als die Krankheit weicht, steckt er zu tief in den Drogengeschäften: auf einmal ist da Zeit im Überschuss, zu viel. Walter White alias Heisenberg (Bryan Cranston) bleibt in diesem braun-goldenen Wortspiel stecken. Dieses Doppelspiel kann tödlich sein – wie die gelbe Farbe in „Breaking Bad“, die Farbe der Chemie, die alles durchdringt: das Gelb der Handschuhe, das Gelb der Schutzanzüge, die Walter und Jesse (Aaron Paul) beim Kochen tragen, Gus’ (Giancarlo Esposito) gelbes Hemd und das Gelb der Sonnenstrahlen. Widmete sich damals „Fargo“ der Farbe Weiß, so widmet sich nun „Breaking Bad“ dem Gelben.
Michael Slovis, „Breaking Bad“s (und auch „Rubicon“s) Kameramann und Emmy-Preisträger für seine Arbeit bei „CSI: Crime Scene Investigation“, verwendet einen so genannten „tobacco filter“ für die Kameralinse, um die Farbtönung zu beeinflussen. „The desert in New Mexico is so brown that the filter makes the browns really pop and gives it a really pleasing skin tone to me. It’s kind of like a tea stain“, sagt er über „Breaking Bad“s Location; dieser Filter akzentuiere neben den gelben auch rote und braune Farbtöne. Der grenzenlose Himmel New Mexicos und die gelbe Schönheit der Wüste fungieren nicht nur als eigenständige Figuren der Serie, sondern als ihr Zuhause. Das Ergebnis ist eine Mischung, an der man sich die Zunge leicht verbrennen kann.
Das beste Beispiel für schöne Bilder ist wohl HBO’s Carnivale, die Serie lebt förmlich von der Atmosphäre die ihre Bilder erzeugen.