Whitechapel: Review der ersten Staffel

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Dunkle Schatten der Vergangenheit scheinen im Osten Londons auferstanden zu sein und wecken Erinnerungen an grausame Taten. Die zuständige Mordkommission hat nicht nur mit der Mordserie zu kämpfen, sondern auch mit einem neuen Vorgesetzten, der ganz eigene Vorstellungen vom Arbeitsalltag hat.

Besser später als nie, lautet in diesem Fall das Motto. Denn Whitechapel ist schon seit Längerem ein heißer Kandidat für ein Review – und immer wieder habe ich es hinausgeschoben. Mittlerweile befindet sich die britische ITV-Produktion aus den Federn von Ben Court und Caroline Ip kurz vorm Start der dritten Staffel. Die zwei bisherigen Staffeln umfassen je drei Episoden, die sich mit einem Copycat-Fall befassen. Das erste Dreierpack widmet sich keinem Geringeren als Jack The Ripper, der in seinem Heimatviertel Whitechapel auferstanden zu sein scheint… Whitechapel ist auf den ersten Blick ein Krimi, wie wir sie zu Hunderten kennen.

Der junge, aufstrebende Detective Inspector Joseph Chandler (Rupert Penry-Jones) wird von seinen wohlwollenden Vorgesetzten und Förderern zur herkömmlichen Polizeiarbeit in der Mordkommission abgeordnet – doch nur, um ihn nach erfolgreicher Aufklärung eines ‘Quotenfalles’ um so schneller nach oben weiterreichen zu können, dorthin, wo die Herren in Ledersesseln sitzen und Whiskey mit viel Eis trinken. Eisige Atmosphäre erwartet Chandler auf dem Revier, denn dort sehen die „normalen“ Polizisten Überflieger wie ihn nicht gern. Es kommt zu Reibereien zwischen Chandler und dem Team, dem er wie aus heiterem Himmel vor die Nase gesetzt wird. Vor allem der Cop-Veteran Detective Sergeant Miles (Phil Davis) hat ein Problem mit dem neurotischen Chandler.

Wie gesagt: Bis zu diesem Punkt klingt alles nach einem gewöhnlichen Krimi. Aber Whitechapel ist mehr als das. Schon in den ersten zwanzig Minuten entsteht eine ganz eigene Mischung, die nicht nur den bissigen britischen Humor, sondern einen gewissen, Gänsehaut erzeugenden Hauch von Mysterium zu bieten hat, gekoppelt an brillante darstellerische Leistungen. Es ist bewundernswert, mit welcher Liebe zum Detail die Autoren jede Nuance der Charaktere zum passenden Zeitpunkt ins Spiel bringen, um dadurch eine nahezu familiäre Atmosphäre zu schaffen – inmitten des Horrors einer Mordserie. Nach nur einer Episode erscheinen einem die Beteiligten wie alte Bekannte. Auch der Mörder könnte ein alter Bekannter sein – eben Jack the Ripper persönlich: auferstanden aus den Schatten der Vergangenheit. Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gelingt zunächst nicht den Detectives, sondern einem anderen Typus von Detektiv – einem, der seine Antworten in den Geschichtsbüchern sucht und findet, auf alten, ausgeblichenen Buchseiten und Zeitungsblättern, die von grausamen Taten berichten.

Es handelt sich um einen “ripperologist” namens Edward Buchan (Steve Pemberton): einen Hobby-Kriminologen, der sich auf die Geschichte Jack the Rippers spezialisiert hat und gegenüber Chandler und Miles behauptet, dass die neuen Morde dessen grausame Taten zu viktorianischen Zeiten exakt kopieren. Während Miles ihn abwimmelt, weckt seine Theorie Chandlers Interesse. Dank der visuellen Gestaltung (Regie in der ersten Staffel führte SJ Clarkson) verstärkt sich das Gefühl eines Zusammenfalls von Vergangenheit und Gegenwart. Im Bild überlappen sich Auszüge alter Berichte, Zeitungsseiten und Fotos mit Bildausschnitten von den neuen Tatorten und kurzen Einblicken in die Wege einer dunklen Figur durchs nächtliche London. Dieser zeitweiligen Unordnung der Bilder korrespondiert direkt die Unordnung und Schlamperei auf dem Revier, die Chandler in den Wahnsinn treibt, so dass er sich zur Beruhigung regelmäßig die Schläfen mit Tiger Balm einreiben muss. Extreme Über- und Untersicht wechseln einander ab, während wir Chandler und sein Team auf ihre nächtlichen Ausflüge begleiten.

Die Handlung in dieser ersten Staffel spielt vorwiegend nachts; die wenigen Lichtquellen sind meistens im Bild zu sehen, wie Straßenlaternen oder Stehlampen. Meistens wird seitliches Licht benutzt, das die Figuren zur Hälfte im Dunkeln und zur anderen Hälfte im Hellen stehen und miteinander und mit der stockenden Untersuchung hadern lässt. Es dauert eine gute Weile, bis man zueinander und zur Wahrheit findet. Another fast tracker, murmelt Miles über Chandler, als dieser zum ersten Mal auf dem Revier auftaucht. Nun, Chandler hat selbst einiges anzumerken bezüglich seiner neuen Kollegen – vor allem ihre Arbeitsethik und Körperhygiene betreffend: „Haven’t you heard of showers? Get yourselves organized. Self-discipline. Self-respect. Deodorant.“ Wenn man nun aber zu organisiert ist, zu sauber, zu diszipliniert – so dass man unter dem Gewicht der einem auferlegten Aufgabe den Selbstrespekt vergisst?

Hinter dem geschniegelten Überflieger Chandler verbirgt sich ein gutherziger, schüchterner und pflichtbewusster Neurotiker, der unter Sauberkeits- und Ordnungszwang leidet und der noch nie an einem Tatort war – schon gar nicht an einem so grausamen wie dem in Whitechapel, wo er zum ersten Mal auf Miles trifft, den erfahrenen, raubeinigen, aber ebenso gutherzigen ‘Skip’. Dort beginnt nicht nur die Reise durch die Vergangenheit, sondern auch eine Freundschaft, die beide Männer zu der Erkenntnis führen wird, dass manche Dinge niemals vergehen. Zum Beispiel menschliche Grausamkeit…

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