Supernaturals sechste Staffel glich einer langen und holprigen Reise, auf die man sich manchmal mühevoll einlassen musste, aber die Mühe hat sich letztendlich in meinen Augen gelohnt. Vor allem in den letzten zwei bis drei Episoden gewann die Erzählung wieder an altbekannter Supernatural-Wucht und vollführte eine interessante und zum Nachdenken inspirierende Wendung, die wenn nicht allen, so doch den meisten Handlungssträngen Sinn verlieh und die Zuschauer mit einem mächtigen Cliffhanger sitzen ließ. Dies alles ist nur mit einem langen Review zu bewältigen.
Macht lautet das Codewort in diesem zweiteiligen Finale. Zu der allergrößten Macht will Castiel gelangen, der Lieblingsengel der Supernatural-Zuschauerschaft – und ausgerechnet seine Ersatzfamilie Sam, Dean und Bobby versucht ihn daran zu hindern. Obwohl es vermutlich viele Fans traurig macht, Cas nun in Relation zu den anderen Hauptfiguren als „böse“ zu sehen, gefällt mir die Entwicklung sehr gut, die die Autoren Cas als Figur durchmachen ließen: Von einem einfachen, nichts hinterfragenden Engel-Soldaten, der meistens unbewusst für humorvolle Einlagen sorgte, stieg Misha Collins als Castiel zu einer mächtigen, aber gleichzeitig bekümmerten Figur empor, die plötzlich ihr eigenes Schicksal in den Händen hält… und am Ende auch das aller anderen. Misha Collins gebührt großes Lob dafür, uns jeden einzelnen Schritt auf diesem Weg und die damit verbundenen Gefühlsregungen mitfühlen zu lassen – so, als führte er die Zuschauer an der Hand bei dieser halsbrecherischen Balance auf dem dünnen Seil zwischen Gut und Böse.
Die Dialog-Szenen zwischen Cas und jeder anderen einzelnen Figur in diesen letzten Episoden sind mehr wert als ein Krieg der Welten mit Special Effects. Supernatural hat schon immer aus der Budget-Not eine Tugend gemacht und auf epische Bilder verzichtet; stattdessen inszenierte die Serie die „epische“ Zerrissenheit ihrer Figuren, das epische Spiel zwischen Liebe, Verrat und Vertrauen. In “Let it Bleed” fließt das Blut, aber und vor allem im metaphorischen Sinne. Es ist die Episode der blutenden Herzen – von Dean und Castiel.
Crowley und Castiel suchen nach wie vor die Tür zum Purgatorium. Der Schlüssel zum Erfolg führt zurück in das Jahr 1937, als ein Schriftsteller namens H.P. Lovecraft starb. Inwieweit sich die Supernatural-Autoren an historische Fakten halten oder sich alles zurechtgedichtet haben, ist eine Sache, aber die Lovecraft-Story bietet möglicherweise den einzigen funktionierenden Ausweg aus der Klemme, in die man sich mit der Purgatorium-Story manövriert hatte. Der Cthulhu-Mythos, über den Lovecraft schrieb, ist viel tiefer und erschreckender, als man sich nach dem Zuschauen des Finales vorstellen mag – doch das Ding, das durch Lovecraft & Co. in unsere Welt kam, ist interessanterweise nicht wirklich böse. Es schlief sogar mit Bobby Singer! Ja, es ist Ell, die Dean in Like a Virgin das Schwert gab… und ja, es ist ein bisschen weit hergeholt, aber es treibt die Handlung voran.
Wie Ell in Let it Bleed zu Bobby sagt, gefällt es ihr auf der Erde, aber jetzt schwebt sie in Gefahr: Crowley und Cas suchen nach ihr, um die Pforte zum anderen Ort wieder öffnen zu können. Um Dean außer Gefecht zu setzen, lässt Crowley Lisa und Ben entführen. Wenn es um Macht geht, ist Verrat gefordert – auf jeder Seite. Ausgerechnet von Balthazar holt sich der verzweifelte Dean Hilfe, der anscheinend erst jetzt, durch Dean, den kompletten Plan seines Freundes Castiel durchschaut und ihn nicht nur als zu gefährlich einstuft, sondern auch Castiels Geheimnistuerei nicht mag: I’m officially on your team, you bastards!
Dean kann Ben und Lisa befreien, aber Lisa wird schwer verletzt. In meinen Augen findet Supernatural am Ende von Let it Bleed die beste Lösung für den Ben-Lisa-Handlungsstrang: Die stärkste Szene der Episode findet im Krankenhaus statt, wo Castiel wieder einen Schritt auf Dean zu versucht, indem er Lisa „heilt“ und sie Dean vergessen lässt – nur um zu erfahren, dass Dean Castiels ‚Verrat’ nicht vergessen kann. Castiels Gesicht im Close-Up, als er das erkennt, kann man tatsächlich mit den Worten „sein Herz blutet“ beschreiben. Genau dasselbe aber geschieht mit Dean. Er entscheidet sich sowohl gegen seinen „Wahlbruder“ als auch gegen seine „Wahlfamilie“, weil ihm einfach… keine andere Wahl mehr bleibt. Er lässt es zu, dass Castiel ihn und alles mit ihm Verbundene aus Bens und Lisas Gedächtnis ausradiert.
Auf leisen Sohlen tritt Dean aus dem Leben der beiden hinaus und schließt die Tür. Cas hilft Dean, diese Tür zu schließen – um gleichzeitig zwei andere zu öffnen: die in Sams Kopf und die zum Purgatorium. The Man Who Knew Too Much, der zweite Teil des Finales, spielt sich über weite Strecken in Sams Kopf ab: in seinem Unbewussten, in dessen Abgründen Sam sich wieder findet. Castiel nämlich hat die von Death errichtete Wand in Sams Kopf entfernt, damit ihm Dean nicht länger im Weg stehen kann.
„Das älteste und stärkste Gefühl der Menschheit ist die Furcht, und die älteste und stärkste Furcht ist die Furcht vor dem Unbekannten“, schreibt der berühmte englische Schriftsteller H.P. Lovecraft, dessen Erzählungen etlichen audiovisuellen Produktionen als Quelle gedient haben. Horror and Suspense: diese beiden Elemente bildeten den Schlüssel zu ihrem Gelingen. Ausgerechnet den Horror-Meister und den Suspense-Meister haben sich die Supernatural-Autoren ausgesucht, um die sechste Staffel der CW-Serie zu beenden. Während im ersten Teil des zweiteiligen Finales Lovecraft in die Handlung einbezogen wird, steht Hitchcocks berühmter Film The Man Who Knew Too Much Pate für den Titel des zweiten.
Supernaturals Finale scheint mir einmal wieder jene sehr typische Mischung darzustellen, die die Serie auszeichnet und für die sie sich etlicher Mythologien, Erzähltraditionen und Religionen bedient. Supernatural ist eine Erzählung über „Es“, das Übernatürliche, das Unbekannte. Man könnte sich selbstverständlich fragen, warum Supernatural plötzlich an Lovecraft anknüpft. Wahrscheinlich haben die Autoren den direkten Weg gewählt und, abgesehen von den kulturellen Referenzen, einfach die folgende Gleichung zu Grunde gelegt: Lovecraft = Horror. Nun: das Faszinierende an guten TV-Serien ist, dass man unterhalten wird und gleichzeitig selbst entscheiden kann, ob man sich etwas dazudichtet oder nicht.
Es geht nicht immer um einen von den Autoren implizierten tieferen Sinn, den es aufzudecken gilt, sondern auch darum, Anregungen zu bieten. Natürlich berührte Supernatural immer nur oberflächlich das ultimative, kaum in Worte zu übersetzende blanke Horrorgefühl beim Eintritt dieses Unbekannten in das menschliche Leben oder gar der Erkenntnis über seine Existenz. Das zu verbalisieren, gelingt höchstens schriftstellerisch – etwa bei Lovecraft.
Im Grunde liegt der Lovecraft’sche Horror außerhalb unserer Möglichkeiten. Aber die CW-Serie schafft es Staffel für Staffel, das Grauen von Außen, das Unbekannte, das Unheimliche in den Bereich des Freudschen Un-Heimlichen zu verschieben. In seinem Aufsatz über das Unheimliche beschreibt Freud die Furcht, die Wurzel der Horrorgeschichten, als die Wiederkehr von etwas Bekanntem, das verdrängt wurde. Demnach gilt diese Furcht einem traumatischen längst Bekannten, das solche Horrorgefühle erzeugt, dass es lieber verborgen bleiben sollte.
Das Unbekannte, das Lovecraft, wie wir in der ersten Episode des Zweiteilers erfahren, hereinließ, erwies sich als ein „Gutes“. Die Gefahr kam nicht von außen, sondern geht vom Heimeligen aus, von dem nur zu Vertrauten, das man unter der Oberfläche versteckt, verdrängt hat. Die Furcht vor dem Unheimlichen ist in Supernatural die Furcht vor dem Messer im Rücken. Im Grunde ist das „Es“, von dem Supernatural erzählt, der menschliche Makel, unsere Fehler und Traumata, um die herum wir eine Wand errichten und die uns trotzdem immer wieder heimsuchen. Warum? Weil sie Teil von uns sind – genauso wie Sam Winchester aus mehreren Sams besteht, denen er allen gegenübertreten muss. Nicht nur ist Sams Reise in das eigene Unbewusste sehr gut inszeniert, sondern auch die Jared Padaleckis Leistung kann überzeugen.
Seine Führerin während der Reise ist eine Unbekannte (in der Rolle: Erica Cerra, Eureka), die wir zum ersten Mal sehen und auf die ein Sam ohne jegliche Erinnerungen in einer Bar trifft. Sam kennt sie nicht, aber ein Teil von ihm – der seelenlose Sam, der ihn verfolgt und auszulöschen versucht – kennt sie sehr wohl. Er hatte damals, auf Monsterjagd in der „Realität“, ihren Tod in Kauf genommen. Was, so fragt Supernatural, muss / darf man alles in Kauf nehmen, um Macht zu erlangen – und wie wird man dadurch verändert? Die Serie behält das richtige Maß und die Balance zwischen den Bildern aus Sams Kopf und dem gegenwärtigen Geschehen – abgesehen von der doch am Ende zu kleinen Rolle Sams im Showdown -, so dass alles sich an einem Höhepunkt wieder findet, an dem Castiel Crowley hintergeht und anschließend Crowleys neues Bündnis mit Raphael zerschlägt.
Ell, wie so typisch für weibliche Figuren in Supernatural, überlebt das Ganze nicht, genauso wenig wie Balthazar, dem Castiel wegen seines Verrats ein Messer in den Rücken rammt. Castiel selbst bekommt das Engel tötende Messer von Sam in seinen Rücken gestoßen; es vermag aber nichts mehr auszurichten: Supernaturals Suche nach Gott hat ihr Ende gefunden. Cas: „I am not an angel any more. I am your new God, a better one!“ Die Macht glänzt in seinen Augen und macht ihn gleichzeitig blind für die ihm Nahestehenden. „You cannot imagine how it feels… they’re all inside me…“ Er steht an diesem Punkt über allen, über den Freunden und über der Familie. So fordert er Dean, Sam und Bobby auf, sich vor ihm zu verneigen, niederzuknien, ihm ihre Liebe zu schwören – oder sie würden ausgelöscht. Dean darf ihm seine Liebe nicht länger verweigern, er muss sie ihm gewährleisten – aber ist eine solche Liebe der Pflicht wirklich dieselbe wie die Liebe, die Dean seinem Wahlbruder freiwillig gab?