Am Anfang der zweiten Staffel beobachteten wir Luther (Idris Elba) dabei, wie er in seiner Wohnung Russisches Roulette zum Frühstück spielte. Am Ende der Staffel stehen seine Chancen nicht mehr fünf zu eins (vorausgesetzt, der Revolver hat sechs Kugeln), sondern nur noch 50:50.
Aber ist das wirklich so? Ist Luther ein fatalistisches Spiel? Oder eher ein Dazwischen, das Luftanhalten nach dem Fall des Würfels, das Mehr im Hundert? Hat man bei einem Spiel immer noch dieselben Chancen, wenn ein Gegner die Bühne betritt – vor allem, wenn die Gegenspieler sich stark von einander unterscheiden? Luther findet in diesem Finale einen Mitspieler für das Spiel, das er seit Anfang der neuen Staffel mit bzw. gegen sich selbst spielt. Aber die beiden sind nicht gleich!
Ebenso wenig können wir die Teile der Luther-Erzählung gleich gut nennen. Man verstehe mich nicht falsch: Luther ist und bleibt eine herausragende TV-Produktion. Meine Kritik richtet sich noch immer gegen den Jenny-Plot, der mich zum großen Teil gleichgültig ließ. Zwar funktioniert das innige Zusammenspiel zwischen Luther und Jenny, aber der Plot an sich als Vehikel für Drama und Spannung greift in meinen Augen auch im Finale zu kurz – und dafür erstreckt sich seine Screentime zu lang. Zu keinem Zeitpunkt empfindet man die Porno-Bedrohung als Bedrohung oder interessiert sich für die Beteiligten und ihre Geschichten. Auch Luthers Grenzüberschreitungen, um Jenny zu helfen, wirken als wenig tragfähige Grundlage für moralische Dilemmata am Arbeitsplatz und die Fragen nach Vertrauen und Hingabe, genauso wie alle Nebendarsteller in dieser Staffel zu kurz kommen.
Andererseits fehlt der Serie die Zeit für mehr: Luthers Problem besteht darin, dass die Fälle der Woche (oder der zwei Wochen) viel zu interessant und spannungsgeladen daher kommen, um “Luft” für mehr und Anderes zu lassen. Außerdem scheint es so, als würde man sich alle Türen offen halten wollen und deswegen laufende Nebenhandlungen kurzer Hand beenden, um “neu” anfangen zu können, falls die Serie verlängert wird. Wenn man also die vier Episoden der zweiten Staffel rückwirkend betrachtet, sieht alles nach dem Versuch aus, einen handlungsübergreifenden Erzählstrang aufzubauen – als Gefahr im Hintergrund, die Luther bei Bedarf stets aus dem Gleis werfen kann. Verglichen mit der Alice-Story aus der ersten Staffel verfehlt diese jedoch ihr Ziel.
So sind wir bei einem weiteren Kritikpunkt angelangt: Alice. Genauer: Ihrem Fehlen! Im Hinblick auf die Intensität der Beziehung zwischen Luther und Alice (Ruth Wilson) und deren Wirkung auf Luthers erste Staffel verabschiedeten die Autoren Alice allzu sang- und klanglos. Man kann sich natürlich vorstellen, vor welchem Dilemma die Autoren standen: Egal welchen Zug sie mit der Figur gemacht hätten, die Gewinnchance hätte nie mehr als 50 Prozent betragen. Wenn man Luther eine Beziehung mit Alice führen lässt, droht sich das Ganze festzufahren, so dass die Intensität mit der Gewöhnung verloren geht.
Aus der Rolle der Luther-Nemesis wiederum hatte man Alice schon herausgeholt und eine viel zu innige Beziehung zwischen den beiden aufgebaut. Sie als eine Art ständige Beraterin einzusetzen, hätte der Serie zu viel US-Procedural-Feeling zugefügt – auch nicht wünschenswert. Die von Alice vorgeschlagene Variante des Zusammenlebens in Mexiko würde die Serie, so wie sie ist, beenden. Eine letzte Möglichkeit läge darin, Luther und Alice ihr selbst-liebendes und gleichzeitig selbst-mörderisches Spiel zu Ende spielen zu lassen – was auch das Leben der beiden Serienfiguren beenden würde.
In meinen Augen sind die Autoren allen Gefahren aus dem Weg gegangen, indem sie Alice auch im Finale der zweiten Staffel keine Rolle spielen ließen – außer der Bedrohung im Hintergrund, die Luther der Porno-Godmother vor Augen führt, um Jennys dauernde Freiheit zu gewährleisten. Im Vordergrund dieses Finales steht eindeutig das Spiel mit dem Würfel, das um Leben und Tod geführt wird. Mehr um Tod, wie Luther und seine Kollegen herausfinden.
Die schonungslos inszenierte Mord-Orgie der beiden Zwillingsbrüder Nicholas und Robert wirkt wie die Live-Variante eines Computerspiels, bei dem die Spieler neue Levels erreichen müssen: Je mehr Tote, desto bessere Waffen dürfen die Spieler benutzen. Ein Ende wäre nur möglich, wenn einer der beiden bezwungen wird. Da Robert in Haft sitzt und Luther nicht auf seine Hilfe zählen kann (er verliert das Würfelspiel gegen ihn), muss Luther nicht als Spieler, sondern als Level das Feld betreten. Er bietet sich also Nicholas an: als Weg zur Steigerung.
Während Luther im Jenny-Spiel die Züge der Gegner komplett mit einrechnet – er benötigt sie, um zu gewinnen, sie ließen zu, dass er mitspielt -, so spielt er mit Nicholas nach den Regeln des Russischen Roulettes. Wenn nun Nicholas die Chancen mit 50:50 berechnet, so stehen sie in Wirklichkeit doch eher 5:1 – für Luther, der das Außerhalb des Spiels mit einberechnet: die Scharfschützen, die Aufschrift auf dem Van und den Umstand, dass Nicholas’ Leidenschaft für das Spiel ihn für diese äußeren Umstände und für die Berechnungsfähigkeiten seines Gegners letztlich doch blind macht. Durchtränkt mit Benzin gewinnt Luther also auch dieses Spiel.
Ob seine Serie aber eine dritte Staffel bekommt? Es steht 50:50…