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Schöne Bilder: Ästhetik in heutigen TV-Serien – Teil I

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Schöne Bilder, wohin das Auge blickt: Heutzutage kommen TV-Erzählungen in beeindruckender visueller Aufmachung daher. Zeit, einen aufmerksameren Blick darauf zu werfen.

“Watching is not seeing“, sagt Schwertkampfmeister Syrio zu der kleinen Arya Stark in der „Game of Thrones“-Episode „The Pointy End“. Kurz darauf verteidigt er sie gegen die Angreifer und bezahlt dafür (vermutlich) mit seinem Leben. Warum vermutlich? Weil wir nicht sehen, was mit ihm passiert. Es geschieht vor unserem Blick und zugleich versteckt. Syrios Holzschwert wird von seinem Gegner bis zum Griff abgeschnitten; ein Schnitt auf sein Gesicht, dann auf Aryas – und der Rest sind nur Schatten an den Wänden und die Geräusche eines unheilvollen, erbitterten Kampfes.Warum aber empfinden wir Syrios Auftritt als seinen letzten, obwohl wir ihn nicht sterben sehen? Natürlich: Auf der einen Seite behält sich eine Serie damit die Möglichkeit vor, eine Figur doch noch zurückzubringen. Syrios eigene Aussage „Watching is not seeing“ bringt das clever zum Ausdruck. Aber viel wichtiger ist hier die visuelle Umsetzung, die zur Entfaltung der Emotionen beiträgt. Die tänzerische Choreographie der Szene hat etwas Würdevolles an sich. Die schnellen Schnitte zerfließen in eine einzige Bewegung, in einen Tanz. Man verzichtet bewusst auf blutige Aufnahmen (wovor sich „Game of Thrones“ im Prinzip nicht scheut) und eröffnet damit das Feld für Spekulationen und Hoffnungen. Eine Nebenfigur in einer kleinen Szene – und doch, dank der Inszenierung, ein bleibender emotionaler Eindruck.

Inszenierung und Kameraarbeit sind eine sehr wichtige, aber oft vernachlässigte Komponente der Serienerzählung – obwohl die audiovisuelle Beschaffenheit von TV-Serien mittlerweile fast jedem Film Konkurrenz machen kann. Das nimmt nicht Wunder, denn das Fernsehen ist nach wie vor als Medium des Autors bekannt, wo Regisseure und sonstige Mitglieder des Produktionsteams nur ausführende Mitarbeiter sind. Ohne Zweifel ist das Drehbuch von enormer Wichtigkeit, aber die Art, wie heutige Serien ihr im Drehbuch festgehaltenes Konzept umsetzen, bleibt oft unbeachtet; man beschränkt sich auf die Ermittlung narrativer Komplexität und narrativer Strukturen, die wiederum als Ergebnis einer Fortsetzungshandlung und überzeugender Figurendarstellung gesehen werden.

In einer Reihe von Artikeln zur visuellen Beschaffenheit heutiger Serien wollen wir uns mit Elementen dieser Gestaltung und ihrem Einfluss auf das Gesamtkonzept einer Serie beschäftigen.

Wie Karen Lury in ihren Ausführungen zum Kino- und Fernsehbild richtig anmerkt, ist das TV-Bild traditionell dazu bestimmt, eher funktional als schön zu sein. Dem gegenüber kann das Bild heutiger TV-Serien meines Erachtens als gleichzeitig funktional und schön gesehen werden. In diesem mehrteiligen Artikel werde ich den wichtigsten Aspekten dieser Beschaffenheit auf die Spur kommen – wobei ein bei TV-Produktionen oft wenig beachteter Beruf ins Blickfeld gerät, nämlich der des Kameramannes, des sogenannten Cinematographers.Keine Angst: Dies soll keine trockene wissenschaftliche Analyse werden, obwohl die Einführung trocken daher kommt. Eine solche Einleitung vermeidet jedoch Missverständnisse und klärt den Ansatz, nämlich: unser Augenmerk auf die Arbeit des Produktionsteams von TV-Serien zu richten, ihr Tribut zu zollen und uns außerdem vor Augen zu führen, mit welchen “schönen” Bildern wir vor dem TV-Bildschirm liebäugeln dürfen.

Wie die cinematographische Arbeit unser Sehen und dadurch unsere Emotionen beeinflusst, wie sehr sie die Narration vorantreibt oder aber die geliebten Figuren in Szene setzt? Man fragt sich: Müssen wir, als Buffy Angel in die Hölle schickt (letzte Folge der zweiten Staffel), deswegen weinen, weil wir verstanden haben, was passiert – oder spielen nicht doch auch das Musikstück “Close your eyes” von Christophe Beck, die Ausleuchtung der Szene und die Kamera-Einstellungen von den beiden Protagonisten (Close-Up, Medium-Shot etc.) eine wesentliche Rolle? Man stelle sich „24“ ohne das Splitscreen-Verfahren vor oder „CSI: Crime Scene Investigation“ ohne CSI-Shots! Weshalb empfinden Zuschauer eine Serie z.B. als spannend? Nur weil sie die Handlung verstanden haben?

Meiner Meinung nach liegt eine wichtige Qualität heutiger sogenannter Quality Television-Serien in der kognitiven Herausforderung der Zuschauer. Der Genuss, den das Publikum an einer Serie empfindet, misst sich an dem Grad der Bewältigung dieser Herausforderung, die über kognitive Schemata des Einzelnen abläuft: Wissen über Genrekonventionen, Erzählmuster, die Vergabe audiovisueller Informationen, aber auch allgemeines Weltwissen usw. Wir können annehmen, dass sich Quality Television in einer höchst subjektiven Erfahrung ereignet, die in eine genauso subjektive Zuschreibung mündet: Der Zuschauer erkennt die Qualität, wenn / indem er sie sieht. „Watching and seeing!“ Solche Serien, narrativ-audiovisuelle Konstrukte, funktionieren als Zusammenspiel von kognitiver Herausforderung für den Zuschauer und dessen subjektivem Genuss daran.

Daraus sollte aber meines Erachtens bei der Betrachtung von TV-Serien eine nächste Frage resultieren: Wie wird besagte Herausforderung audiovisuell konstruiert? Wir Zuschauer bekommen schließlich nicht das Drehbuch zu lesen, sondern Bilder und Sound zu sehen und zu hören. Um überhaupt mit der Sinnkonstruktion anfangen zu können, müssen wir zuerst die Bilder wahrnehmen; erst über diese Wahrnehmung werden unsere kognitiven Schemata aktiviert. Die Geschichten werden uns gezeigt, in Bildern erzählt. Der audiovisuelle Stil einer Produktion als narratives Element, als Teil des Gesamtkonzepts einer Serie wird des Öfteren stiefmütterlich behandelt. Schon die rein technischen Entwicklungen des Mediums Fernsehen (HDTV, 16:9-Übertragung), gemeinsam mit ökonomischen Veränderungen vor allem in der US-Fernsehlandschaft, führen zu veränderter Produktion und Rezeption; man denke an LCD- und Plasmabildschirme sowie Home-Cinema-Anlagen. Tim del Ruth (Regisseur von „The West Wing“) erzählt in einer Diskussion über Breitbild folgendes:

Switching to 1.77:1 (16:9) would save us set-up time and coverage. We could stack two or three actors in one Shot without having to go to individual singles, which is what we have to do in 1.33:1 (4:3). As it stands now, we only get one-and-a-half or maybe two people in a raking Shot, the Shots get so wide perspective-wise, that the image of the (third) person’s head gets too small, and we lose the strength that’s needed to tell a story on TV.

Nicht nur dass das Breitbild der Industrie vermutlich Geld spart: Es bietet einfach mehr (kreativen Spiel-)Raum – bzw. genauso viel wie im Kino.Die Fernsehübertragung ist nicht mehr nur Informationsfluss, sondern Spektakel, das sich in der vollen ästhetischen Entfaltung der Produkte äußert. Diese Entfaltung verführt unseren Blick zur Aufmerksamkeit. Stets hat man die Fernseh-Erfahrung bezüglich der Aufmerksamkeit des Publikums als dem Kino unterlegen eingestuft, da ihr das Dispositiv Kino fehlt: die Dunkelheit, die riesige Leinwand, die vielen Unbekannten, mit denen man das Erlebnis gezwungenermaßen teilt usw. Im Gegensatz zum Fernsehen, so die verbreitete Meinung (hier Nelson), gehörte dem Film die ungeteilte Aufmerksamkeit des Zuschauers:

Given the various attractions of the domestic space, viewers’ attention may be sporadic. Unlike at the theatre or the cinema, where audiences typically sit in a darkened space constructed to focus their attention on the play or film, most people are engaged in other activities whilst watching television.

Heutzutage jedoch zwingen viele Serien den Zuschauer ungeachtet seiner jeweiligen Sehumgebung dazu, ihnen genau diese Aufmerksamkeit zu schenken. „Watch to see!“ Um zu immer höherem Genuss zu kommen, muss man auf alles achten, vor allem auf Details. Je mehr Aufmerksamkeit der Zuschauer in die Bildoberfläche investiert, desto mehr gibt es zu entdecken, und desto höher wird der Genussfaktor bei der Betrachtung von Serien. „Breaking Bad“ nehme ich zum Anlass, um an der AMC-Serie zu demonstrieren, wie viel Wert man in heutigen TV-Serien auf die Bildästhetik legt. Poesie für das Auge: so hatte ich in einem Artikel anlässlich des deutschen „Breaking Bad“-Starts die Emmy-prämierte Serie bezeichnet. Ihre Bilder sind nicht mit Figuren überfüllt, sondern oft “leer”. Laut Kameramann Michael Slovis kombinieren sie Ländliches und Urbanes. Man betrachtet das Grenzenlose und das Begrenzte, das Offene und das Geschlossene: Sie existieren gleichzeitig. Und beide können Leere und Isolation bedeuten. Man findet nicht nur den Parkplatz unter dem weiten, offenen Himmel leer vor, sondern auch das eigene Haus.

Die meisten Orte, an die uns die Serie führt, sind anonym, neutral, aber signifikant für die Erzählung: leer, aber schön. Sie befinden sich im Kontext der Geschichte und kreieren ihn zugleich. Die braun-gelben Bilder der New-Mexico-Wüste bilden „Breaking Bad“s Zuhause: Die Serie ist, existiert, lebt im Bild. Auch über das Bedürfnis nach einem Zuhause erzählt „Breaking Bad“, nach Geborgenheit, nach Stabilität, nach einer Grenze – als Abgrenzung gegenüber dem Grenzenlosen, Instabilen.

Diese Stabilität jedoch geht durch die Verkettung von Walters Entscheidungen verloren – und plötzlich ist die Leere in die eigenen vier Wände eingefallen. Was Walter als Versuch sehen will, die Familie zusammenzuhalten, wird mehr und mehr zur offenen Tür für die gefährliche Außenwelt. Walters Interaktion mit diesem Außen geschieht auch von einem anderen Zuhause aus: vom Wohnmobil, dem RV. Dort, inmitten der Chemie, fühlt er die Stabilität, derer er in seinem eigentlichen Zuhause nach und nach verlustig geht.

„Breaking Bad“s Bilder thematisieren den Zeitverlust, der gleichzeitig stehen gebliebene und fehlende Zeit bezeichnet. Zu Beginn fehlt Walter Zeit, da er todkrank ist. Als die Krankheit weicht, steckt er zu tief in den Drogengeschäften: auf einmal ist da Zeit im Überschuss, zu viel. Walter White alias Heisenberg (Bryan Cranston) bleibt in diesem braun-goldenen Wortspiel stecken. Dieses Doppelspiel kann tödlich sein – wie die gelbe Farbe in „Breaking Bad“, die Farbe der Chemie, die alles durchdringt: das Gelb der Handschuhe, das Gelb der Schutzanzüge, die Walter und Jesse (Aaron Paul) beim Kochen tragen, Gus’ (Giancarlo Esposito) gelbes Hemd und das Gelb der Sonnenstrahlen. Widmete sich damals „Fargo“ der Farbe Weiß, so widmet sich nun „Breaking Bad“ dem Gelben.

Michael Slovis, „Breaking Bad“s (und auch „Rubicon“s) Kameramann und Emmy-Preisträger für seine Arbeit bei „CSI: Crime Scene Investigation“, verwendet einen so genannten „tobacco filter“ für die Kameralinse, um die Farbtönung zu beeinflussen. „The desert in New Mexico is so brown that the filter makes the browns really pop and gives it a really pleasing skin tone to me. It’s kind of like a tea stain“, sagt er über „Breaking Bad“s Location; dieser Filter akzentuiere neben den gelben auch rote und braune Farbtöne. Der grenzenlose Himmel New Mexicos und die gelbe Schönheit der Wüste fungieren nicht nur als eigenständige Figuren der Serie, sondern als ihr Zuhause. Das Ergebnis ist eine Mischung, an der man sich die Zunge leicht verbrennen kann.

Rubicon: First Day Of School (1×02)

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Im ersten Review über den Piloten fiel mir das treffende Wort für das von Rubicon vermittelte Gefühl nicht ein, aber jetzt weiß ich es: Nostalgisch! Aber nicht im Sinne von Tarkowkijs Film „Nostalgia“, der die Essenz, das pure Gefühl als einen Hauch vergangener und zukünftiger Träume inszenierte, sondern die Nostalgie als eine Liebeserklärung an die Zivilisation und an den menschlichen Verstand. Wie man als Zuschauer Rubicon wahrnimmt und schätzt, hängt nicht nur von der eigenen Disposition ab, sondern davon, was der Zuschauer von der Serie will.

Ja, es ist eine dieser Serien, in der man das Gesuchte auch finden wird. Oder auch nicht. Ich persönlich habe darin viel gefunden, nicht nur weil die brillanten Rubicon-Bilder mich in eine Art audiovisuellen Traumzustand versetzen, sondern weil mich das kaum vorhandene Tempo, das mühsame Voranschreiten der Serie, reflektieren lassen, über… Worüber eigentlich? Rubicon gibt noch keine Antwort. Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich als Zuschauer auch keine nötig, denn glücklicherweise bin ich an die Serie nicht mit der Erwartung herangetreten, 24 oder „Bourne Identity“ zu sehen. Zum Glück.

Denn wer von Rubicon Action und eine Verschwörung erwartet, die schnell von einem Bösewicht zum nächsten springt, wird wenig Freude an der AMC-Produktion haben. Wer sich wiederum mit der schleichenden Erkenntnis auseinandersetzen will, dass der eigene Verstand der beste Freund und der größte Feind sein kann, ist hier goldrichtig. Rubicon ist eine dieser Serien, die dem Zuschauer den Raum lassen, ihre fiktionale Welt durch die eigene Reflektion mitzugestalten. Und die Serie reflektiert die Zuschauererfahrung: Wer sucht, der wird auch finden. American Policy Institute (API), die Organisation für die unsere Hauptfigur Will (James Badge Dale, 24 und The Pacific) arbeitet, durchsucht das Weltgeschehen nach Mustern und Hinweisen auf zukünftiges Unheil, um die Regierung rechtzeitig warnen zu können.

Will kommt ausgerechnet beim Lesen der Zeitung auf eine codierte Botschaft, die in den Kreuzworträtseln verborgen ist und mehrmals auftaucht. Rubicon verzichtet auf codierte Emails, Satellitenaufnahmen und Google. Die Serie präsentiert die Spionage-Arbeit als eine Hommage an alten Zeiten, als eine melancholische Erinnerung daran, dass diese Arbeit nicht nur ohne Glanz und Glamour verrichtet wird, sondern auch noch Gefahren für die eigene mentale Gesundheit birgt. Die Menschen, die für API arbeiten, sind selbst wie ein Code “geknackt”. Der eigene Kopf als Speicherplatz steht hier im Mittelpunkt. Der Prozess, wie Erfahrenes überarbeitet, interpretiert und eingesetzt wird (oder auch nicht), macht Rubicon aus und nicht das Ausspucken von Antworten mittels modernster Technologie, was dann zu Handlungen führt.

Die hemmungslose Langsamkeit dieses Prozesses wird auch durch die Hauptfigur vermittelt. Die Gesetzmäßigkeit dieser Welt lehrt uns, dass wenn Menschen sich an etwas erinnern wollen, sie automatisch langsamer gehen … Woran will sich Will Travers erinnern? An die Welt vor 9/11? An die Welt, als seine Familie noch am Leben war? Einer der großen Vorzüge der Serie liegt darin, genau diese schmerzhaften Erinnerungen nicht an die Oberfläche kommen zu lassen und ständig zu thematisieren. Will scheint in einer erinnerten Welt zu leben, aber die Rubicon-Welt, die vor unseren Augen entfaltet wird, ist ja eine erinnerte, in der Stift und Papier eine Bedeutung hatten.

James Badge Dale ist in meinen Augen schon nach zwei Episoden die absolut gelungene Besetzung, denn im Zentrum dieser Langsamkeit der Erzählung zu stehen, fordert eine Hauptfigur enorm heraus. Dale schafft es perfekt, den ständigen Denkprozess, in dem seine Figur verfangen ist, darzustellen und damit den Zuschauer miteinzubeziehen. Manche Kritiker werfen Rubicon vor, dass auch in der zweiten Episode nichts passieren würde. Aber das stimmt so nicht ganz, denn die Serie schafft für den Zuschauer (der sich darauf einlässt) ein Gefühl der ständigen Unruhe, beinahe Paranoia. Eine Paranoia, dass in der Serie ganz viel passiere, wir es nur nicht zu sehen bekommen.

Eine Szene aus The First Day of School beschreibt es am besten: Als Will nach Hause geht, wird er verfolgt und beobachtet. Er vermutet es, sieht es aber nicht. Dafür sehen wir es, die Zuschauer. Trotzdem geschieht wieder einmal nichts und wir werden alleine in der Nacht zurückgelassen, mit Blick über die Schulter. Mit Hilfe des in Rente gegangenen Analytikers Ed Bancroft (Roger Robinson) kann Will die Nachricht, die ihm von seinem verstorbenen Vorgesetzten und Mentor hinterlassen wurde, entziffern: „They Hide in Plain Sight“. Um wen handelt es sich? Was hat das mit dem Nebenplot um die Witwe (Miranda Richardson) des toten Bankers zu tun?

Es macht nicht nur Spaß, Will beim Lösen des Puzzles mit Buch, Stift und Papier zuzuschauen. Die zweite Episode gibt uns verstärkt das Gefühl, dass während Will auf das Puzzle konzentriert ist, die Serie selbst damit beschäftigt ist, schleichend eine größere aber anonyme Welt um ihn aufzubauen, die gerade durch ihre Anonymität das Gefühl der Angst suggeriert. Moderne Thriller mit spärlich beleuchteten Gassen und durch die Technik schnell zu treffende Entscheidungen lassen keinen Raum für Reflektion. Das Erfrischende an Rubicon ist, die Figuren (deren Namen man kaum erinnert) über ihre Welt reflektieren zu sehen. Trotzdem lässt einen das Gefühl nicht los, dass jede Sekunde etwas passieren kann. Es passiert zwar nichts, aber es ist da. Das Gefühl ist dem Bild eingeschrieben.

Die erste Szene aus The First Day of School ist ein vom Breaking Bads Kameramann „Michael Slovis“ brillant gefilmtes Beispiel dafür: Als Will auf der Brüstung des Dachs steht, wechselt die Kamera zwischen dem subjektiven Blickwinkel Wills und einem anderen neutralen: Von Jemandem, der nicht da ist. Wir sehen mit Wills Augen die verzerrten Spiegelungen an der gläsernen Gebäudewand. Und dann beobachten wir ihn, wie er diese Welt um sich betrachtet. Extreme Obersicht (Wills Blick) wechselt sich mit extremer Untersicht (Blick auf ihn auf der Brüstung) ab, Close-Ups mit Long Shots und dann springt er herunter … aber auf der Dachseite und geht in das Gebäude hinein.

Es ist nichts passiert, bis auf das in seinem Kopf.

Breaking Bad oder über die Grenzen von Chemie und Poesie

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Die Chemie

Faszinierende Erzählung, großartiges Schauspiel, kunstvolle Bilder… und die Chemie: Das ist „Breaking Bad“. Dabei kann Chemie als Oberbegriff fungieren: hier stimmt sie, zwischen allen Erzählmolekülen, egal, welche Verbindungen sie miteinander eingehen.

„Breaking Bad“ wurde vom ehemaligen „The X-Files“-Schreiber Vince Gilligan für das Kabelnetwork AMC kreiert. In den letzten Jahren hat sich das Network in eine Geburtsstätte für großartige Dramen verwandelt: „Mad Men“, „Breaking Bad“ und „Rubicon“. Man sieht es: AMC ist auf dem Wege, einen Status zu erreichen, der lange Zeit nur HBO vorbehalten war.

Wenn der kleine Kabelsender eine neue Produktion auch nur ankündigt, fallen wir alle wie von selbst in den Quality-Television-Erwartungsmodus. Dabei startete AMC als Abspielstätte für Filmklassiker – und ging über Jean-Claude-Van-Damme-Filme hin zu „Breaking Bad“, der Serie über Walter White (Bryan Cranston), den Chemielehrer aus Albuquerque, New Mexico.

Bei Walter wird Krebs diagnostiziert. Er schlägt daraufhin einen unerwarteten Weg ein, um seiner Familie finanzielle Sicherheit in der Zukunft ohne ihn zu gewährleisten: mit Hilfe seiner überragenden Kenntnisse des Periodensystems produziert Walter Crystal Meth. „Breaking Bad“ ist eine Serie mit Chemie über die Chemie: Über die Verbindungen chemischer Elemente – und über die Elemente zwischenmenschlicher Beziehungen. Br steht für Brom, Ba für Barium. Die Titel der Serie heben auch die Formel für Methamphetamine hervor – C10H15N – sowie dessen Molekülmasse, 149.24 g/mol.

Sowohl Nummern als auch das Wort “Mas” spielen eine wesentliche Rolle in der Serie. Die „Breaking Bad“-Autoren lieben das Spiel mit Titeln und konstruieren ihre Breaking Bad-Erzählung wie ein Buch, das in unterschiedlichen Kapiteln unterteilt ist.

Diese Kapitelüberschriften zeichnen im Grunde Walter Whites Schritte nach: von einem chemischen Element zum nächsten, bis er den radioaktiven Bereich erreicht und Einiges zum Explodieren gebracht wird.

Die Chemie ist Walts einzige Stütze. Zwar wird seine Krebserkrankung erfolgreich mit der Chemotherapie bekämpft, und er befindet sich auf dem Weg der Besserung – aber dafür infiziert, verseucht er alle Menschen (Elemente), die mit ihm eine Verbindung eingehen, gar mit ihm in Berührung kommen: ihr Leben wird instabil.

Die „Breaking Bad“-Autoren konstruieren die Gesamterzählung wie das berüchtigte hundertzwölfte Element des Periodensystems. Ein internationales Wissenschaftlerteam entdeckte das Element im Februar 1996. Seit 2010 trägt es offiziell den Namen Copernicium: nach dem Astronomen Kopernikus (1473-1543), der herausfand, dass sich die Erde und die anderen Planeten um die Sonne drehen. Eine fundamentale Veränderung im menschlichen Denken, eng verknüpft mit dem Beginn der Neuzeit. Auch „Breaking Bad“ hat das TV-Denken verändert. Zwar hat die Serie das Fernsehen nicht revolutioniert, aber perfektioniert.

Copernicium, das Element Nr. 112, wurde entdeckt, als die Forscher eine Bleifolie mit Zink-Ionen beschossen. Durch die Verschmelzung der Atomkerne entstand ein neues Atom. Dieses Atom war allerdings nur für Bruchteile von Sekunden stabil. Kein Wunder, denn Cn ist das schwerste Element im Periodensystem: schwer – und hochgradig instabil. Eine explosive Mischung, wie uns die vier „Breaking Bad“-Staffeln zeigen. Die Veränderung, die neuen Verbindungen, die die Elemente (der Story) eingehen – ob sichtbar oder unsichtbar – tragen eine schwere (tiefe) Bedeutung.

 

Die Poesie

Nun betreten wir den Bereich des Sichtbaren, der Poesie für das Auge, die „Breaking Bad“s Produktionsteam unter New Mexicos Sonne dichtet. „Imagine the Coen brothers directing an episode of Weeds, and you have Breaking Bad“, sagte einmal TV-Kritiker Troy Patterson in seinem Artikel “No Country for Old Meth Dealers” (Slate). Damit hat er, ob bewusst oder unbewusst, einen Treffer gelandet: Beim Schauen von „Breaking Bad“ muss ich jedes Mal an „Fargo“ denken. Natürlich spielt „Fargo“ mitten im Winter in Minnesota, aber beide Produktionen erwecken mit ihrer Bildgestaltung, ihrer Inszenierung von Raum und Zeit ähnliche Gefühle. Es geht um die spezielle Kombination des Ländlichen und des Urbanen: „Fargo“ und „Breaking Bad“ untersuchen das Offene, Grenzenlose und das Begrenzte, die zeitgleich existieren und denselben Raum zu beanspruchen scheinen, ohne miteinander zu kollidieren. Denn beide können Leere und Isolation bedeuten. Man findet nicht nur den ausgedehnten Parkplatz unter dem weiten, offenen Himmel leer vor, sondern auch das eigene Haus. Die meisten Orte, an die uns die Serie führt, sind anonym, aber signifikant für die Erzählung: leer, aber schön. Sie befinden sich im Kontext der Geschichte und kreieren ihn zugleich. Die braun-gelben Bilder der New Mexico-Wüste bilden (!) „Breaking Bad“s Zuhause: es ist, existiert, lebt im Bild.

„Breaking Bad“ erzählt auch über unser Bedürfnis nach einem Zuhause, nach Geborgenheit, nach Stabilität, einer Grenze als Abgrenzung gegenüber dem Grenzenlosen, Instabilen. Diese Stabilität jedoch geht durch die Verkettung von Entscheidungen, die Walter trifft, verloren – und plötzlich ist die Leere in die eigenen vier Wände eingefallen. Was Walter als Versuch sehen will, die Familie zusammenzuhalten, wird mehr und mehr zur offenen Tür für die gefährliche Außenwelt. Walters Interaktion mit diesem Außen geschieht auch von einem anderen Zuhause aus: vom Wohnmobil, dem RV. Dort, inmitten der Chemie, fühlt er die Stabilität, derer er nach und nach in seinem eigentlichen Zuhause verlustig geht.

„Breaking Bad“s Bilder thematisieren den Zeitverlust, der gleichzeitig stehen gebliebene und fehlende Zeit bezeichnet. Zu Beginn fehlt Walter Zeit, da er todkrank ist. Als die Krankheit weicht, steckt er zu tief in den Drogengeschäften: auf einmal ist da Zeit im Überschuss, zu viel. Walter White alias Heisenberg bleibt in diesem braun-goldenen Wortspiel stecken. Doppelspiel kann tödlich sein – wie die gelbe Farbe in „Breaking Bad“, die Farbe der Chemie, die alles durchdringt: Das Gelbe der Schutzanzüge, die Walter und Jesse beim Kochen tragen, Gus’ gelbes Hemd (der Drogenbaron, gespielt von Giancarlo Esposito) und das Gelbe der Sonne.

Genauso wie damals „Fargo“ sich der weißen Farbe widmete, widmet sich nun „Breaking Bad“ der gelben. Michael Slovis (Emmy-Preisträger für seine Arbeit bei „CSI: Crime Scene Investigation“), „Breaking Bad“s Kameramann (auch „Rubicon“s), benutzt einen so genannten „tobacco filter“ für die Kameralinse, um die Farbtönung zu beeinflussen. „The desert in New Mexico is so brown that (the filter) makes the browns really pop and gives it a really pleasing skin tone to me. It’s kind of like a tea stain“, sagt er über die Location; dieser Filter akzentuiere neben der gelben ebenso die rote und braune Farbe.

Der grenzenlose Himmel von New Mexico und die gelbe Schönheit der Wüste fungieren nicht nur als eigenständige Figuren der Serie, sondern als ihr Zuhause. Aber dort wird kein Tee für Walter White serviert.