Während Joe weiterhin an der ersten Theorie festhält, hegt Kent einen grausamen Verdacht. Miles wiederum sieht den Zeitpunkt gekommen, um mit Joe Klartext zu reden, während der maskierte Mann erneut zuschlägt.
In vielen Produktionen, wo ein Serienmörder im Zentrum zu stehen scheint, wird immer wieder nach Spuren und Zeichen gesucht, um den “Autor”, der sie hinterlassen hat, ausfindig zu machen, ihn zu überführen. Den Begriff “Spur” könnte man auf zweierlei Weisen beschreiben. Die erste entspricht der herkömmlichen kriminologischen Herangehensweise: dem “Lesen” von Spuren unter der Voraussetzung, dass sie zu einem Täter, zur Wahrheit führen. Die zweite Art, Spuren zu lesen, zieht ein Sich-Verlieren in Verweisketten nach sich, womit in Whitechapel bisher Ed Buchan am heftigsten zu kämpfen hat: Man stellt fest, dass jede Spur zu einer anderen führt. Während Buchan daran fast verzweifelt, scheint sich Joe unbewusst danach zu sehnen: Statt dass die Spur aus Anderem ableitbar wäre, führt umgekehrt alles auf sie zurück.
Damit ist eine gewisse Traurigkeit verbunden, die Trauer über den menschlichen Makel, die man auch in der Vorspann-Melodie von Whitechapel mitklingen hört. In Kombination beider Spurenlese-Techniken müssen nun Joe und sein Team die Spur hinter der Spur finden, die schließlich zu demjenigen führt, der die Spuren hinterlässt. Je nach den am Tatort hinterlassenen Spuren unterscheiden die Kriminalisten im Prinzip zwischen Modus operandi (dem, was der Täter tut, während er die Tat begeht) und Handschrift. Ersterer ist dynamisch, was heißt, dass er sich ändern kann. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Verbrecher in seiner “Karriere” die Taten immer auf dieselbe Art und Weise begeht: er verbessert sich.
Was aber die Handschrift genannt wird, betrifft im Gegensatz zum Modus operandi das, was der Täter tun muss, um sich zu verwirklichen: sein Begehren. Es ist statisch, es ändert sich nicht, weil es etwas Anderes ausdrückt: das, was wirklich hinter den Taten steht. Als in dieser finalen Episode der dritten Staffel der maskierte Mann erneut versucht, die Psychologin Morgan Lamb zu ermorden – und erneut scheitert -, ist eines klar: Es muss eine persönliche Verbindung zwischen ihnen bestehen. Kent führt diese Annahme ins Extreme, indem er Morgan als mögliche Komplizin des Maskenmanns behandelt – ohne zu bemerken, dass er damit auf sein eigenes Begehren hinweist. Die Nebenhandlung um das Spukhaus und den geflohenen Massenmörder Mantus schrammt zwar hart am Slapstick entlang, aber Whitechapel hat diese Seite immer an sich gehabt; sie reizt uns Zuschauer nicht allzu sehr, sondern ergänzt irgendwie das Ganze.
Und dieses Ganze schwankt zwischen Licht und Schatten, zwischen Erleuchtung und Dunkelheit. Es geht nicht so sehr um die Beziehung zwischen Miles und Joe, die trotz kleiner Krisen intakt bleibt, sondern um diejenige zwischen Joe und sich selbst. Er glaubt, auf der richtigen Spur zu sein, während und indem er Morgan immer näher kommt. Sie bringt ihm sogar einen Trick bei, der ihm hilft, seine Kontroll-Neurose im Zaum zu halten… oder besser: im Gummiband. Zwischen Lydia Leonard und Rupert Penry-Jones herrscht diese gewisse Chemie, die den Zuschauer schließlich zwiegespalten sitzen lässt: Einerseits ist ihr tragischer Tod konsequent und stellt den Fall noch einmal in ein anderes Licht, denn ironischerweise hatte Kent doch Recht mit seiner Vermutung, es seien zwei Täter.
Andererseits – und damit sind wir wieder beim Licht – boten Joe und Morgan mit ihrem Kuss im erleuchteten Raum eine Art Aufatmen, eine aufschwebende Hoffnung innerhalb der dunklen Whitechapel-Bilder und Geschichten. Wir hätten Joe (und uns) gewünscht, diese Atmosphäre längere Zeit genießen zu dürfen, aber die Spuren sind unaufhaltsam: Hat man einmal angefangen mit ihrer Lektüre, gibt es kein Entkommen. Sie führen für Joe, der nach Morgans Tod in sich zusammenbricht, Richtung Fluchtpunkt des Bildes: in die Dunkelheit, die ihn in sich einlässt und mit der diese dritte Staffel endet.
Ob er wieder herauskommen wird – für eine vierte Staffel Whitechapel?